Die Krisen des Westens


Goldstein: Die Ansprüche der westlichen Politiker und der westlichen Bevölkerungen gehen weit über die gegenwärtigen Möglichen hinaus – und noch weiter über die zukünftigen.

Das Ende der Dominanz

Die Westalliierten waren der erste Sieger des 2. Weltkriegs. Zwar hatte die Sowjetunion die Hauptlast der Bodenkämpfe getragen, in denen die Armeen der Achsenmächte geschlagen wurden. Sie hatte ihr Territorium erheblich erweitert und darüber hinaus einen Einflussbereich im nahen Ausland gewonnen. Die Sowjetunion hatte das allerdings auch mit den größten Verlusten bezahlt. Sie war wirtschaftlich geschwächt. Angesichts dieser Schwächung war ihr neuer Einflussbereich überdehnt.

Der Einfluss des Westens erreichte etwa 1960 seinen Höhepunkt. Um diese Zeit verlor Frankreich wenige Jahre nach seinen asiatischen Kolonien auch die afrikanischen. Großbritannien hatte Indien bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen. Ab etwa 1960 gab es ebenfalls seine afrikanischen Kolonien auf. Im Jahr 1960 betrug der Anteil der USA am Bruttoinlandsprodukt der Welt 40%, er sank bis 2019 auf 24%. Bereinigt man auf die Kaufkraft, beträgt er 2022 noch etwa 15.6%. Er wird voraussichtlich weiter fallen.

Bis Anfang der 1970er Jahre verblieb der Westen trotz des Verlusts der Kolonialreiche unter Führung der USA mit Abstand die 1. Welt. Der Anteil der USA am globalen Bruttoinlandsprodukt ging nur leicht auf etwa 36% zurück. Gleichzeitig begann der Hauptrivale Sowjetunion wirtschaftlich zu stagnieren. Innerhalb der westlichen Welt dominierten die USA ganz klar, was sich auch im 1944 geschaffenen Bretton-Woods-System äußerte. Dieses System koppelte die Währungen vieler Länder an den US-Dollar an. Im Gegenzug garantierten die USA den Dollar mit ihren Goldreserven. Das System erforderte Leistungbilanzüberschüsse anderer westlicher Länder um mit wachsnder Wirtschaft höhere Dollar-Reserven aufzubauen. Dadurch erlaubte es den USA ein großes Leistungsbilanzdefizit. Das verringerte schließlich das Vertrauen in den Dollar. Durch die westlichen Partner wurde es auch immer mehr als zu starke Einschränkung der eigenen fiskalischen Möglichkeiten angesehen. Im März 1973 brach das Bretton-Woods-System endgültig zusammen. Dem folgte im Herbst 1973 die erste Ölpreiskrise. Bereits am 27. Januar 1973 hatten die USA im Pariser Abkommen de facto ihre Niederlage im Vietnam-Krieg anerkannt. Am 30. April 1975 endete der Vietnam-Krieg endgültig mit dem Sieg des sozialistischen Nordvietnam.

Der Westen überwand die Krise der ersten Hälfte der 1970er Jahre, hauptsächlich dadurch, dass der von der Sowjetunion geführte sozialistische Block in eine noch tiefere Krise geriet. In den Jahren 1989 bis 1991 brach der Ostblock zusammen. Der Westen schien den Wettkampf der Systeme gewonnen zu haben. Francis Fukuyama verkündete 1992 das Ende der Geschichte und Zbigniew Brzeziński bezeichnete 1997 die USA als die einzige Weltmacht. Der Anteil Chinas am Bruttoinlandsprodukt der Welt betrug in diesen Jahren in absoluten Zahlen etwa 3%, kaufkraftbereinigt etwa 5%. Er steigt seitdem kontinuierlich an. Kaufkraftbereinigt hat er 2020 mit 18.18% denjenigen der USA (15.77%) bereits überschritten.

Die wirtschaftliche Dominanz des Westens ist nicht mehr gegeben. Die Machtverteilung in internationalen Institutionen spiegelt die Veränderungen seit 1960 allerdings noch nicht wieder. Der UN-Sicherheitsrat ist auf dem Status von 1946 verblieben, als die drei westlichen Siegermächte des 2. Weltkriegs gemeinsam mit der Sowjetunion und China als ständige Mitglieder mit Vetorecht installiert wurden. Im Internationalen Währungsfonds, einem Kind des Bretton-Woods-Systems, verfügen die USA als Einzelstaat und die EU als Staatenblock jeweils über eine Sperrminorität, de facto ein Vetorecht.

Weder die westlichen Politiker noch die westlichen Bevölkerungen sind bereit, den Bedeutungsverlust zu akzeptieren. Sie stellen Macht- und Wohlstandsansprüche, die durch die eigenen Möglichkeiten und die eigene Leistung nicht mehr gedeckt sind. Jetzt ist es der Westen, der überdehnt ist. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass der Rückgang westlicher Möglichkeiten und Leistung sich in den kommenden Jahren sogar beschleunigen wird. Der Versuch, unter diesen Bedingungen die Macht und den Wohlstand der vergangenen Jahre aufrechtzuerhalten, kann die Krise nur verschärfen.

Die Finanzkrise

Die Abkehr vom Bretton-Woods-System hat das Problem des großen Leistungsbilanzdefizits der USA nicht gelöst. Es hat allerdings die bis dahin formell existierende Golddeckung der westlichen Währungen aufgehoben. Der Wert des Geldes beruht nur noch auf Vertrauen, also auf dem gemeinsamen Glauben aller Akteure. In den Worten des ehemaligen deutschen Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann aus dem Jahre 2012 liest sich das so: «In Kurzform: Heutiges Geld ist durch keinerlei Sachwerte mehr gedeckt. Banknoten sind bedrucktes Papier – die Kenner unter Ihnen wissen, dass es sich im Fall des Euro eigentlich um Baumwolle handelt –, Münzen sind geprägtes Metall… Letztlich fußt die Annahme von Papiergeld jedoch primär auf dem Vertrauen der Bevölkerung, mit dem erhaltenen Papiergeld selbst auch wieder Käufe tätigen zu können… Geld ist in diesem Sinne eine gesellschaftliche Konvention – es hat keinen eigenständigen Wert, der der Nutzung vorgelagert ist, sondern sein Wert entsteht erst durch den ständigen Austausch.“

Dieses Vertrauen der Bevölkerung beruht wiederum darauf, dass die Regale voll und die Preise einigermaßen stabil sind. Trifft das über längere Zeit nicht zu, könnte es bald kein Halten mehr geben. Tatsächlich existiert nämlich ein sehr großer Teil des formell vorhandenen Vermögens nur als Zahlen in einem Computer, denen nicht einmal eine entsprechende Menge Bargeld gegenübersteht. Dieser in Zahlen ausgedrückte Teil des Vermögens ist spekulativ angelegt, also in «Werte», die ebenfalls keine Sachwerte sind, sondern deren Geldäquivalent nur auf dem Vertrauen der Anleger beruht. Insgesamt existieren sehr viel höhere Vermögen als Sachwerte. Bereits 2008 wurde gelegentlich von einem Faktor 10 an Kaufkraftüberhang geredet, wenn man die Vermögen der Reichen einbezieht. Dieses Problem ist nur durch Inflation lösbar. Daher stellt sich die Frage, ob die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg nicht auch willkommene Anlässe waren, eine Inflation in Gang zu setzen, die der vorherigen Doktrin in der Finanzpolitik wiederspricht. Diese Inflation löst übrigens nicht nur das Problem des Kaufkraftüberhangs, sondern auch das reziproke Problem des Schuldenüberhangs. Sie schafft aber ihre eigenen Probleme, weil sie selbst schwer kontrollierbar ist und auf die Realwirtschaft zurückwirkt.

Die Wirtschaftskrise

Die seit März 2020 durch riesige ungedeckte Staatsausgaben – in Deutschland handelt es sich um viele hundert Milliarden Euro – in Gang gesetzte Inflation verschärft sich derzeit durch eine Energieträgerkrise. Auch diese ist zu einem großen Teil hausgemacht. Zuerst wurde eine unrealistisch schnelle Abkehr von fossilen Energieträgern verkündet und in Gang gesetzt, ohne zu bedenken, wie die Lieferländer darauf reagieren würden. Dann wurde wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine öffentlich die vollständige Abkehr von Energieträgerimporten aus Russland propagiert, aber nicht sofort, weil das nicht möglich ist. Es brauchte nur wenig strategisches Verständnis, um zu erkennen, dass die Förderländer, einschließlich Russlands, das Zeitfenster nutzen würden, in dem der Westen noch in kritischem Ausmaß auf sie angewiesen ist. Selbst dieses geringe strategische Verständnis ging den westlichen Politikern ab. Das wahrscheinliche Ergebnis werden Firmenpleiten und ein Produktionsrückgang sein. Möglicherweise entwickelt sich hier gerade etwas, das eine Stagflation noch in den Schatten stellt. Stagflation ist die Kombination stagnierender Wirtschaft mit hoher Inflation. Zu erwarten ist nun die Kombination einer deutlich schrumpfenden Wirtschaft mit hoher Inflation.

Diese Entwicklungen treffen eine Wirtschaft, die bereits durch die überzogene und wenig durchdachte Reaktion auf die Corona-Pandemie angeschlagen ist. In einer global stark vernetzten, hoch optimierten und mit sehr geringen Reserven betriebenen industriellen Basis haben Lieferkettenprobleme zu Produktionsrückgängen geführt. Diese sehen in den Statistiken nur deshalb nicht dramatisch aus, weil gleichzeitig die Preise gestiegen sind. Zum Teil wurden die Probleme auch abgemildert, indem die wenigen noch vorhandenen Reserven abgebaut wurden. Es ist schwer vorherzusehen, wie robust das Gesamtsystem noch sein wird, wenn es zu weiteren Verwerfungen kommt.

Mittelfristig steht das westliche Wirtschaftssystem vor einem Problem, das noch gravierender sein dürfte. In den meisten Ländern wird in den kommenden Jahren eine zahlenmäßig größere Generation aus dem Arbeitsprozess ausscheiden als in ihn eintritt. Um nicht an Wohlstand und drastisch an Bedeutung zu verlieren, müsste der Westen unter diesen Bedingungen die Wirtschaftsleistung wenigstens aufrechterhalten und technologisch mit Ländern mithalten, die eine größere junge Generation haben. Das wäre schon dann schwierig, wenn die neue Generation so gut ausgebildet wäre wie die ausscheidende und wenn sie das gleiche Arbeitsethos besäße. Keines von Beidem trifft zu.

Eine Studie zur Entwicklung der Kompetenz von Viertklässlern in den Fächern Deutsch und Mathematik zeigt einen dramatischen Rückgang zwischen 2011 und 2021. Dieser Rückgang hat sich zudem in der zweiten Hälfte der Periode deutlich beschleunigt (siehe zum Beispiel Seite 18 der Pressemappe). Die Spitzenabsolventen der neuen Generation mögen noch hervorragend ausgebildet sein. Im Durchschnitt ist die neu eintretende, kleinere Generation aber weniger kompetent als die austretende, größere Generation.

Zudem, und das geht hin bis zu den Spitzenvertretern der nächsten Generation, möchten sie weniger arbeiten und mehr Zeit für sich selbst und gegebenenfalls die Familie haben. Das Feuilleton beklatscht diese Haltung begeistert, selbst in Medien wie der NZZ, die früher als großbürgerlich galten. Nun sind mir solche Gedanken nicht fremd. Ich habe als junger Mensch selbst argumentiert, man solle sich nicht so abrackern, um den ganzen Plunder zu produzieren, den niemand wirklich braucht. Das allerdings ist etwas Anderes, als die Arbeit nur noch als eine Einkommensquelle zu sehen, deren Unterhaltungsaufwand man minimieren muss. Gerade für den akademisch gebildeten Teil früherer Generationen war Arbeit auch ein Lebensinhalt. Mit «Nur so viel wie unbedingt nötig» wird Herausforderungen nicht zu begegnen sein. Zum Beispiel auch derjenigen nicht, fossile Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen, ohne dass dann auch Dinge aus den Regalen verschwinden, die man nicht als Plunder bezeichnen kann. Denken Sie dabei unruhig an Medikamente.

Die Krise der Demokratie

Die jüngere Generation glaubt, zumindest in ihrer Mehrheit, nicht mehr an Arbeit als wesentlichen Lebensinhalt. Glaubt sie noch an die Demokratie? Wenn man nach der Beteiligung geht, wohl nicht. Ein kleiner Anteil von Aktivisten glaubt an laute Proteste, sieht aber die persönliche Zukunft eher in Nichtregierungsorganisationen als darin, Verantwortung zu übernehmen. Opposition ist sehr viel leichter als Regieren. Wer mit Fundamentalopposition berühmt wird, damit großen Einfluss gewinnt und sich so auch noch ein gutes Auskommen sichern kann, wird wenig Lust auf die Arbeit und die Kompromisse verspüren, die mit dem Regieren nun einmal einhergehen.

Ich nehme mich da gar nicht aus. Schon in meiner Generation – ich bin 56 Jahre alt – ist die Beteiligung am parteipolitischen Prozess ausgesprochen unpopulär. Das liegt teilweise am Auswahlprozess des politischen Personals in den Parteien. Dieser muss intelligente Menschen, die etwas bewegen wollen, abschrecken. Der Trend ist allerdings auch in der Schweiz zu beobachten, wo Politik auf vielen Ebenen mit einem wesentlich durchlässigeren Milizsystem betrieben wird. Viele der über 50-Jährigen wollen hier gern politisch Einfluss nehmen, aber sie wollen das nicht durch Arbeit in «Linienpositionen» tun. Sie wollen vor Allem nicht persönlich Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, die in solchen Positionen getroffen werden müssen.

Stabile Systeme kooptieren die fähigsten Vertreter der Opposition in ihre Führungsstrukturen. Dieser Prozess scheitert im Westen zunehmend daran, dass die fähigen Oppositionsvertreter gar keine Führungspositionen übernehmen wollen. Sie mögen ihre Gründe haben – ich verstehe diese Gründe in meinem eigenen Umfeld sehr gut – die Positionen müssen aber besetzt werden. Sie werden also auch dann besetzt, wenn die Fähigen Nein sagen. In der Folge verzweifeln die Wähler an dem Personal, das den Staat noch führen will.

Die Krise des politischen Personals

In der Parteipolitik fallen die plausiblen Führungspersönlichkeiten einer Generation häufig schon in ihren jungen Jahren auf. Sie werden dann systematisch aufgebaut. In den drei mittelgroßen deutschen Parteien CDU, SPD und Grüne heißen sie Paul Ziemiak (Jahrgang 1985, Generalsekretär), Kevin Kühnert (Jahrgang 1989, Generalsekretär) und Ricarda Lang (Jahrgang 1994, Ko-Bundesvorsitzende). Diese drei Personen haben eine auffällige Gemeinsamkeit. Sie haben es weder zu einem Berufsabschluss noch zu einem Studienabschluss gebracht. Ziemiak ist zweimal durch die Erste juristische Staatsprüfung gefallen und hat danach ein Studium der Unternehmenskommunikation abgebrochen. Kühnert hat sich 2009 in ein Studium für Publizistik und Kommunikationswissenschaften eingeklagt und dieses 2010 abgebrochen. Ab 2016 versuchte er sich an einem Fernstudium der Politikwissenschaften, gab dieses aber schon 2017 nach seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden der Jusos auf. Ricarda Lang studierte von 2012 bis 2019 Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin. Sie beendete dieses Studium ohne Abschluss. Ziemiak hat zumindest schon einmal außerhalb der Politik als Werkstudent für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gearbeitet, Kühnert in einem Callcenter. Von Ricarda Lang ist nicht bekannt, dass sie schon einmal gearbeitet hätte. Es erscheint unwahrscheinlich, dass solche Politiker kompetente Gesprächspartner von naiven Schaumschlägern unterscheiden können. Vermutlich würden sie sich eher zur zweiten Sorte hingezogen fühlen. Genau das macht ihren innerparteilichen Wert aus.

Auch steht keine dieser drei Personen im Verdacht, ein gesellschaftliches Problem unabhängig durchdenken zu können. Dass sie eine einmal als richtig erkannte Politik gegen Widerstand durchsetzen könnten, erscheint unmöglich. Sie können nämlich keinesfalls riskieren, in Ungnade zu fallen, weil das für sie ein Fall ins Bodenlose wäre. Solchen Leuten Verantwortung zu übertragen, wäre unfair, ganz abgesehen von der Gefahr für die Gesellschaft. Wem aber sonst?

Wie düster es um diese Drei bestellt ist, zeigt ein Vergleich mit dem jetzigen deutschen Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Jahrgang 1969). Habeck hatte im Sommersemester 1991 ein Magisterstudium in den Fächern Germanistik, Philosophie und Philologie begonnen und dieses bereits 1996 erfolgreich abgeschlossen. Im Jahr 2000 reichte er eine Doktorarbeit zu einem literaturwissenschaftlichen Thema ein und verteidigte auch diese erfolgreich. Sie ist öffentlich zugänglich. Gemeinsam mit seiner Frau hat er mehrere Romane und ein Theaterstück geschrieben. Gleichwohl – wer in den letzten Wochen einen seiner Auftritte gesehen hat, wird das wissen – ist Robert Habeck mit seinem Amt stark überfordert. Das überrascht nicht unbedingt. Als Feingeist war er nicht für das Wirtschaftsministerium prädestiniert. Das Beispiel zeigt, dass das gegenwärtige westliche politische System neben dem Mangel an geeignetem Personal noch einen weiteren, gravierenderen Defekt aufweist. Unter den zur Verfügung stehenden Personen wählt es mit großer Sicherheit die falschen. Dieses Charakteristikum lässt sich am Besten an einem aktuellen Beispiel aus Großbritannien diskutieren.

Der Fall Truss

Mir ist kein anderer Fall bekannt, in dem ein Spitzenpolitiker eines entwickelten Landes ohne Not eine so krasse Fehlentscheidung getroffen hat wie Liz Truss direkt nach ihrer Amtsübernahme mit Steuersenkungen bei gleichzeitigem Schuldenmachen und Eingehen potentiell sehr teurer Verpflichtungen zur Energiepreisstabilität. Es kam auch nicht unerwartet. Bereits am 23. August hatte einer ihrer Kontrahenten, Rishi Sunak, vorhergesagt, dass ihre extremen Vorstellungen in der Fiskalpolitik Investoren abschrecken würden. Rishi Sunak ist nicht irgendwer. Er war vom 13. Februar 2020 bis zu seinem Rücktritt aus der Regierung Johnson am 1. Juli 2022 britischer Schatzkanzler (Finanzminister). Sunak hat in Oxford studiert und an der Stanford Graduate School for Business mit einem Fulbright-Stipendium einen Master of Business Adminstration (MBA) erworben. Er war Analyst bei Goldman Sachs und hat in mehreren Firmen gearbeitet, die selbst Investitions-Fonds verwalteten. Die Pläne von Truss lagen im Bereich seiner Kompetenz, während sie auf finanziellem Gebiet über eine Position im Rechnungswesen von Shell für relativ kurze Zeit nicht hinausgekommen war. Dennoch entschieden sich die Delegierten der britischen Konservativen Partei gegen Rishi Sunak und für Liz Truss und ihr abenteuerliches Programm. Wir finden hier wieder das Problem der Auswahl naiver Schaumschläger.

Dass Liz Truss nicht daran glaubt, dass Handwerkliche einer Position zu beherrschen und sich in wichtige Dossiers einzuarbeiten, hätte die Konservative Partei auch aus einem Vorfall am 10. Februar 2022 wissen können. Der russische Außenminister Sergei Lavrov hatte sie damals in einem beispiellosen diplomatischen Affront auf einer gemeinsamen Pressekonferenz als Beispiel für die Ignoranz westlicher Politiker vorgeführt. Lavrov nannte Truss taub und sagte, sie hätte auch nicht zu kommen brauchen, da sie in den vertraulichen Gesprächen nur die offizielle britische Regierungsposition aufgesagt habe. Man hätte diese also genauso gut vor laufender Kamera abhalten können. Danach spielte das russische diplomatische Korps der Zeitung Komersant gezielt die Information zu, Lavrov habe Truss während dieser Gespräche gefragt, ob Großbritannien denn die Souveränität Russlands über die Regionen Rostov und Voronesh anerkennen würde. Truss antwortete, dass Großbritannien die Souveränität Russlands über diese Regionen niemals anerkennen würde. Der Punkt ist, dass sie seit jeher zu Russland gehören. Truss hätte das auch unbedingt wissen müssen, denn die Massierung russischer Streitkräfte in den beiden Regionen war damals ein Streitpunkt zwischen dem Westen und Russland. Der ebenfalls anwesende britische Botschafter in Russland musste seine Außenministerin auf der Stelle korrigieren. Die britische Seite hat den Vorfall nicht dementiert, sondern behauptet, Truss habe Lavrov nur missverstanden.

Interessant ist, warum ein erfahrener Diplomat wie Lavrov überhaupt diese Frage gestellt haben könnte. Er dürfte sich zu diesem Zeitpunkt bereits recht sicher gewesen sein, dass Truss keine Ahnung hatte. In jedem Fall wusste das hinterher die ganze Welt, scheinbar mit Ausnahme der britischen konservativen Partei. Natürlich hört niemand gern auf die Argumente des Gegners, schon gar nicht in einem hybriden Krieg, in dem der Gegner zum Feind geworden ist. Rationale Argumente ignoriert man jedoch immer nur zum eigenen Schaden, auch wenn der Gegner sie bereits benutzt hat.

Kooperativität der Krisen

Alle aufgeführten Krisen, wie auch die hier nicht diskutierte militärische Krise, wirken zusammen und verstärken einander. Das Ergebnis ist eine ausgesprochen gereizte Stimmung, in der die Vertreter demokratischer Parteien übereinander herfallen, gern auch solche aus der gleichen Regierungskoalition. Staaten, die vor dem gleichen gravierenden Energieproblem stehen, sind unfähig, sich über ein paar nichtssagende Phrasen hinaus auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Während die EU auf wirtschaftlichen Gebiet angegriffen wird, spielen kulturprogressive Politiker mit der Idee innerhalb der EU einen Finanzkrieg gegen kulturkonservative Regierungen zu führen. Jeder schaut auf sich und alle verlieren dabei.

Lehnen Sie sich zurück. Sie können an diesem Lauf der Dinge nichts ändern. Der Verfall spielt sich mit der Unerbittlichkeit eines Naturvorgangs ab. Genießen Sie das Schauspiel des Sonnenuntergangs bevor die kalte Nacht anbricht.


90 Antworten zu “Die Krisen des Westens”

  1. Schade, dass so wenig Leser mit Ihnen umgezogen sind. Ich persönlich finde die verwendeten Schriftarten sehr gelungen. Inhaltlich ging es für mich ziemlich ans «Eingemachte». Einfach zurücklehnen geht noch nicht. Ich arbeite daran.
    Viel Glück für den neuen Ort.
    Erwin

  2. Guter Artikel. Ausführlich und mit Belegen bzw. einigen Zahlen versehen. Gerne gelesen. Gut, habe es auch nicht anders erwartet.
    Die Ansprüche an die Qualität sind bei Ihnen doch höher als bei Andere. Aber Sie sind in der Lage diese auch zu erfüllen. Mancher Journalist könnte sich daran orientieren, wenn ich so an manche Artikel denke die ich jeden Tag lese.

  3. Okay, war dann doch ganz iziti.

    Farbkombination und Ihre HamletOrNot-Schriftart auf der Startseite haetten mich vielleicht abgeschreckt, wenn ich nicht wuesste, wer da schreibt.

    Danke fuer den sehr informativen Artikel! Kritik folgt noch.

  4. Zunächst einmal habe ich mich über das Thema als solches wundern müssen – ‹Die Krise des Westens› – zu einer Zeit, in der der Osten brennt.
    Nun denn, habe ich mir gesagt, jeder mag so gut ablenken, wie er kann. Ist im Osten nichts positives zu finden, dann ist es allemal ein probates Mittel, den Westen schlecht zu reden – wenn es denn hilft.

    Den Text habe ich gelesen. 3 mal. Am Ende fehlt mir ein wenig der Ansatz zur differenzierten Kritik, diese würde nämlich den Umfang des Textes leicht überschreiten, kommt dieser in Inhalt und Aussage doch etwas ‹einäugig ‹ daher. Kompliment natürlich für den Mut, in einer Zeit der Umbrüche und Ungewissheiten eine zukünftige Entwicklung voraussagen zu wollen, vermutlich würden sie diese umfassend geschilderten Krisen relativieren wollen, setzt man sie erst in einen globalen Maßstab. Denn die Krisen Europas sind die Krisen dieser Welt, sie werden global greifen und mehr oder wenige schmälern, was über viele Jahre erschaffen wurde – oder eben dies verhindern, was in naher Zukunft geschaffen werden sollte.

    Zur Ursache haben sie dann weniger Zeit verwendet, aber zugegeben – diese liegt nicht im Westen, von daher war das Thema wohl gewählt.

    Auffällig am Anfang bereits die einleitenden Worte der verlorenen Wirtschaftsdominaz ‹des Westens› – also zum googeln bin ich jetzt zu faul – aber meines Wissens nach liegen – gemessen am BIP – 8 ‹westliche Länder ‹ unter den Top 10. Natürlich mit dem Schwergewicht China auf Platz 2, ich denke, es wäre jetzt sinnleer, diesen Platz qualititiv zu hinterfragen, besteht er doch in weiten Teilen aus einer verlängerten Werkbank, die perspektivisch keinen Wert darstellt.

    Im ersten Blick mag dann vieles stimmig daherkommen, mit jedem weiteren Blick verliert diese Stimmigkeit aber an Substanz, weil sehr oft ein punktueller Faktor ausgerollt und verallgemeinert wird.

    • Der Artikel ist schon gut, es muss nicht immer der Ukraine-Krieg sein.

      Allerdings fuer jemanden, der zwischen den Stuehlen sitzt, ist die Seite, mit der es bergab geht (d’accord!), dann schon sehr festgelegt. M. M. nach handelt es sich nicht nur um Krisen des Westens.

      Gruesse an Zerbi.

      • Also ich finde schon das Thema zu einseitg aufgesetzt, die Perspektiven eines Staates sind immer als Summe allgemeiner und spezifischer Faktoren zu betrachten, das sind dann natürlich die Risiken bzw. Krisen, dem entgegenzustellen sind aber die Entwicklungspotenziale und Rahmenbedingungen – und dieses fehlt eben hier.

        Auf den nächsten Ebene erfolgt keine Differenzierung zwischen allgemeinen und spezifischen Risiken – Corona ist keine Krise des Westens, auch die Verteuerung der Rohstoffe nicht, das wird alles zu pauschal gewertet.

        Und will man vergleichen, das ergibt sich mitunter ein ganz anderes Bild – in Brüssel wird Deutschland längst als Kriegegewinner gehandelt, weil es die finanziellen Möglichkeiten hat, einerseits Bevölkerung und Gewerkschaften über Zuschüsse bei allzu großen Einbußen zu unterstützen, andererseits in der Lage ist, über Kredite ein Umstrukturierung und Modernisierung der Wirtschaft zu fördern, was im sich im Saldo zu einem Wettberwerbsvorteil von 10 Jahren rechnen kann. Und wenn es gut läuft, dann kann die Ukraine helfen, die Lieferketten entscheidend zu verkürzen und zu stabilisieren, indem die C-Teile-Ferigung aus China wieder nach Europa rückverlagert wird, was ein dringliches Anliegen der deutschen Wirtschaft wäre.

        Und sowieso, ich glaube nicht, dass derzeit jemand wirklich sagen kann, wie diese Welt in 10 Jahren aussehen wird, aber ich bin bei weitem nicht so pessimistisch, was die mittelfristige Perspektive Deutschlands betrifft (gerne incl. Holland, Tschechien und Österreich).
        Und wenn ich ein Zitat benutzen darf – Die Zukunft ist noch nicht geschrieben.

    • Ich hatte nicht vorgehabt, eine Kleine Weltgeschichte der 2020er Jahre zu schreiben. Wenn es darum geht, dass es mit dem Westen bergab geht, benötige ich auch keine Bezugspunkte ausserhalb des Westens. Die Bezugspunkte liegen in der Vergangenheit des Westens selbst.

      Die Anzahl westlicher Länder unter den Top-10 beim BIP relativiert sich, sobald sie kaufkraftbereinigt rechnen. Da man Geld nicht essen und aus Geld keine Infrastruktur und keine Häuser bauen kann, muss man das schon tun. Wie immer Sie aber auch rechnen, der Westen bringt es auch einschliesslich Japans nicht mehr auf über die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung. Man kann also nicht mehr von der Dominanz reden, die früher gegeben war.

      «besteht [der Platz Chinas] doch in weiten Teilen aus einer verlängerten Werkbank, die perspektivisch keinen Wert darstellt»

      Eben doch. Ohne Webdesign kann ich gut leben, ohne viele der kleinen Dinge, die wir aus China bekommen, nicht.

      Im Uebrigen reden Sie von dem Land, das 2018 als erstes Land überhaupt eine Sonde auf der Mondrückseite gelandet hat und 2020 als erstes Land seit 40 Jahren Mondgestein zurückgebracht hat. Sowie von dem Land, das die fortgeschrittensten Komponenten für den neuesten Kommunikationsstandard (5G) produziert.

      Die Idee, China produziere hauptsächlich Low-Tech, ist inzwischen sehr veraltet. Ich bin schon 2015 in Shanghai mit einer Magnetschwebebahn zum Flughafen gefahren. Es gab in der Stadt schon 2015 nur noch elektrische Motorroller, die Verbrenner waren bei diesem Fahrzeugtyp schon verboten.

      Es gibt ein Gebiet, das im Westen sicher nicht im Niedergang begriffen ist. Das ist das Gebiet der Arroganz.

      • ** Es gibt ein Gebiet, das im Westen sicher nicht im Niedergang begriffen ist. Das ist das Gebiet der Arroganz. **

        Ein denkbar überflüssiger Satz, da scheint mir eine offene Diskussion nur bedingt erwünscht.

        • «da scheint mir eine offene Diskussion nur bedingt erwünscht.»

          Ich verstehe Ihr Problem hier nicht. Ich finde es eben arrogant, die Wirtschaft Chinas » in weiten Teilen» als «verlängerte Werkbank» zu bezeichnen. Das sollte ich sagen dürfen, genau so wie Sie meinen Text ‹einäugig› nennen dürfen, ohne dass ich Ihren Kommentar beleidigt in den Papierkorb verschiebe.

          In einer offenen Diskussion steht an der Kritikstrasse kein Einbahnstrassenschild.

      • «…eine Kleine Weltgeschichte der 2020er Jahre zu schreiben.»

        Ist schon klar, aber verkehrt waere es nicht.

        «Im Uebrigen reden Sie von dem Land, das 2018 als erstes Land überhaupt eine Sonde auf der Mondrückseite gelandet hat..»

        Ich denke, falls ich noch eine Mondlandung erlebe, werden das wohl Taikonauten sein. NASA (und Musk) traue ich das in naechster Zeit eher nicht zu.

        Im Uebrigen reden Sie von dem Land, dass Minderheiten in «Umerziehungslager» steckt, seine eigene Bevoelkerung total ueberwacht (dagegen koennte man das in Deutschland als Witz bezeichnen), die Todesstrafe in keinem anderen Land so haeufig vollstreckt wird (prozentual koennte das sich natuerlich relativieren) usw.
        Was nuetzt die florierende Wirtschaft (allerdings soll es dort inzwischen auch nicht mehr so rosig sein), wenn da immer noch Mio. Menschen in absoluter Armut leben, auch wenn da schon viel dagegen getan wurde.

        Sie koennen mich auch gern korrigieren, da ich meine Kenntnisse nur aus dem MSM beziehe. Vielleicht ist es ja auch ganz anders.

        «Ohne Webdesign kann ich gut leben, ohne viele der kleinen Dinge, die wir aus China bekommen, nicht.»

        Ich auch nicht. Ist das aber jetzt nicht auch westliche Arroganz?

        Noch was zu Ihrem Arbeitsethos:

        Ich finde es gut, dass die Jugendlichen (d. h. die Mehrheit?) nicht mehr soviel arbeiten wollen. Die Wenigsten haben/ bekommen einen Job, den sie gern machen. Das Problem ist, dass sie trotzdem den «ganzen Plunder» haben wollen. (auf den «polit. Westen» bezogen)
        Kann mir nicht vorstellen, dass es perspektivisch Wissenschaft und Technik nicht schaffen, dass (entfremdete) Arbeit eben nicht mehr der Mittelpunkt des (kurzen) Lebens ist. Vorausgesetzt, der Planet geht nicht vorher vor die Hunde.

        • Ich bin kein Freund des chinesischen politischen Systems. Gerade deshalb finde ich es schlecht, dass wir uns gerade in einer Abwärtsspirale befinden.

          Was weniger Arbeit von weniger jungen Leuten betrifft: Im Prinzip tun wir Alles mit so grosser Verschwendung, dass man mit weniger Arbeit tatsächlich besser leben könnte. Dahin führt aber kein Weg, genausowenig wie zu einer gerechten Verteilung des Wohlstands und der Ressourcen auf diesem Planeten.

          Mich persönlich interessiert weniger, wie schön alles sein könnte, wenn die Menschheit erziehbar wäre, sondern was mit den Menschen geschehen wird, die so sind, wie Menschen schon immer waren und immer sein werden.

          • Okay. China ist fuer mich die perfekte Symbiose von den schlechtesten Seiten des «Kommunismus» und Kapitalismus. Verstehe nicht, dass manche Linke (beim «Freitag» und anderswo) das als Alternative zum Kapitalismus westlicher Praegung empfinden.

            «…sondern was mit den Menschen geschehen wird, die so sind, wie Menschen schon immer waren und immer sein werden.»

            Yeap! Immer gut, wenn man mal wieder auf den harten Boden der Realitaet zurueckgeholt wird.

  5. Ich habe eine spezifische Aussage als ‹einäugig› klassifiziert im Sinne einer – meiner Ansicht nach – fehlenden Ausgewogenheit, das kann auch als Kritik wahrgenommen werden, von mir aus.

    Sie haben keineswegs eine Aussage über China als arrogant bezeichnet, sondern eine ganze Gesllschaft als solche, nämlich ‹den Westen›. Ob das eine Beleidigung ist oder als solche verstanden werden kann, das lasse ich mal dahingestellt, mir ging es um das gleichermassen stereotype wie undifferenzierte Reaktionsmuster ‹der Westen›. Ich bin nicht ‹der Westen› und wenn ich hier eine unqualifizierte oder falsche Wahrnehmung schreibe, dann kann ich darüber diskutieren – allerdings nicht, wenn ich damit einzig ein allgemeingültiges Klischee bediene, welches offenbar nur auf mich gewartet hat.

    Im übrigen hatte ich China keineswegs die technologische Kompetenz abgesprochen, ich hatte lediglich vom Rückbau deutscher Lieferketten geschrieben, mehr nicht. Das hat mit den Fähigkeiten der chinesischen Wirtschaft als solcher überhaupt nichts zu tun.

    • «Sie haben keineswegs eine Aussage über China als arrogant bezeichnet, sondern eine ganze Gesllschaft als solche, nämlich ‹den Westen›. »

      Ich habe, am Beispiel dieser Aussage eine Verallgemeinerung auf die westliche Gesellschaft getrofffen.

      Zu dieser Verallgemeinerung stehe ich auch. Schaut man sich an, wie die westlichen Medien, die öffentlich-rechtlichen und die meisten privaten, über die Zustände und Errungenschaften von Ländern reden, die nicht zur «westlichen» Seite der Auseinandersetzung gehören, dann kann man wirklich kaum vermeiden, Arroganz zu sehen.

      In Deutschland funktioniert der Zugverkehr nur bedingt, der Internet-Zugriff per Mobiltelefon in der Fläche auch nur bedingt, es fehlt an Lehrern, der Bildungsstand der Kinder geht zurück, es fehlt an Gesundheitspersonal. Wir sollten wohl doch besser mal überlegen, was wir falsch machen, als was andere falsch machen. Letzteres können wir sowieso nicht ändern.

      • «Wir sollten wohl doch besser mal überlegen, was wir falsch machen, als was andere falsch machen.»

        Klar. Allerdings, was koennen wir (d.h. Deutschland) denn richtiger machen – sofort und perspektivisch – mit dem Personal, dass uns z.Zt. zur Verfuegung steht und den Buendnissen, in denen wir drin hängen (und von denen wir uns wohl auch nicht so einfach – ohne negative Folgen – loesen koennen)?

      • –> Woher werden die Fachkräfte kommen, die bei uns die entsprechenden Produktionskapazitäten aufbauen und betreiben? <–

        Sehen sie, das haben sie schon wieder nicht richtig gelesen, ich hatte den Rückbau als Verlagerung der C-Teile-Fertigung in die Ukraine beschrieben, da sollten die entsprechenden Fachkräfte sehr schnell verfügbar sein, das könnte dann als Basis zum Aufbau von Industriestandorten dienen, welche natürlich die dringend erforderlichen Investitionen im Bauch hätten.

        In Ergänzung kann die Erzeugung der Halbfertigteile dann in Tschechien ausgebaut werden, was die gesamte Lieferkette in einem gemeinsamen Wirtschaftrsraum mit (idealerweise) identischer Gesetzgebung und völlig zollfrei gewährleisten würde. Und als kleiner politischer Mehrwert könnte sich Tschechien dadurch aus der polnischen Klammer lösen, für gesamteuropäische Perspektiven ein nicht zu unterschätzender Faktor.

        Und sowieso, die Herstellung von C-Teilen ist vielleicht im primären Produktionssprozess trivial, im Bereich der Qualitätsprüfung und logistischen Vorplanung aber überhaupt nicht, von daher war auch die 'verlängerte Werkbank' keineswegs abwertend gemeint.

        • «Sehen sie, das haben sie schon wieder nicht richtig gelesen,»

          Könnten Sie bitte die Hakeleien lassen? Das ist kein Fussballspiel.

          «ich hatte den Rückbau als Verlagerung der C-Teile-Fertigung in die Ukraine beschrieben, da sollten die entsprechenden Fachkräfte sehr schnell verfügbar sein»

          Wie kommen Sie darauf, dass die Ukraine überschüssige Fachkräfte bzw. eine schnelle und hinreichend gute Fachkräfteausbildung hat?

  6. Der Zusammenbruch der Lieferketten liegt aber auch an China’s repressiver «Zero-Covid»-Politik. Nicht an allem Unheil in der Welt ist der «Westen» schuld. An der jetzigen Energiekrise schon.

    • «Der Zusammenbruch der Lieferketten liegt aber auch an China’s repressiver «Zero-Covid»-Politik.»

      Ich bin nicht einmal sicher, ob China das nicht sogar absichtlich als Muskelspiel betrieben hat. Kanada und die USA haben im Zusammenhang mit Huawei ganz klar faul gespielt. Auch andere westliche Länder wollten in diesem Fall auf einmal nichts mehr von den sonst so heiligen WTO-Regeln wissen. Dass China als Antwort darauf dem Westen dessen Abhängigkeit vorgeführt hat, würde mich nicht wundern.

  7. Erst einmal beste Grüße und sehr schön, dass Sie hier weitermachen.

    Sie schreiben: «Die wirtschaftliche Dominanz des Westens ist nicht mehr gegeben.»

    Ich werde jetzt den „Advocatus Diaboli“ machen, und einen Artikel zusammenfassen, den ich neulich in „Foreign Affairs“ gelesen habe: USA unanfechtbar als die Nr. 1 und ihre Macht als „rogue superpower“ einsetzend.

    In dem Artikel:

    https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-10-06/illiberal-american-century-rogue-superpower

    wird behauptet, dass auch das kommende Jahrhundert ein „US-amerikanisches“ sein werde. Und zwar aufgrund zweier Faktoren:

    Überalterung und Automation, die beide die Vereinigten Staaten begünstigen.

    Überalterung:

    Bis 2070 wird sich das Durchschnittsalter der Weltbevölkerung im Vergleich zu 100 Jahren zuvor von 20 auf 40 Jahre verdoppelt haben, und der Anteil der Menschen im Alter von 65 Jahren und älter an der Weltbevölkerung wird sich von fünf Prozent auf 19 Prozent fast vervierfacht haben. Seit Jahrtausenden sind die jungen Menschen den älteren Menschen zahlenmäßig weit überlegen. Doch 2018 gab es zum ersten Mal mehr Menschen über 64 Jahre als unter sechs.

    Von den 20 größten Volkswirtschaften der Welt werden nur Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten in den nächsten 50 Jahren eine wachsende Bevölkerung im Alter von 20 bis 49 Jahren haben.

    Die anderen großen Volkswirtschaften werden in dieser kritischen Altersgruppe im Durchschnitt einen Rückgang von 16 Prozent erleiden, wobei sich der größte Teil des demografischen Rückgangs auf die mächtigsten Wirtschaftsakteure der Welt konzentriert. China zum Beispiel wird 225 Millionen junge Arbeitnehmer und Verbraucher im Alter von 20 bis 49 Jahren verlieren, das sind 36 Prozent seiner derzeitigen Gesamtbevölkerung. Japans Bevölkerung der 20- bis 49-Jährigen wird um 42 Prozent schrumpfen, die Russlands um 23 Prozent und die Deutschlands um 17 Prozent. Die indische Bevölkerung wird bis 2040 wachsen und dann rapide abnehmen. In den Vereinigten Staaten hingegen wird der Markt um zehn Prozent wachsen. Der amerikanische Markt ist bereits so groß wie der der nächsten fünf Länder zusammen, und die Vereinigten Staaten sind weniger vom Außenhandel und von Investitionen abhängig als fast jedes andere Land. In dem Maße, wie andere große Volkswirtschaften schrumpfen, werden die Vereinigten Staaten noch stärker in den Mittelpunkt des globalen Wachstums rücken und noch weniger auf den internationalen Handel angewiesen sein.

    Automation:

    Dank der Innovationen auf diesem Gebiet könnte in den 2030er Jahren fast die Hälfte der Arbeitsplätze in der heutigen Wirtschaft automatisiert sein.

    In den Branchen, die den Automatisierungstrend vorantreiben, haben die USA bereits einen erheblichen Vorsprung. So gibt es dort fast fünfmal so viele Unternehmen und Experten für künstliche Intelligenz wie in China, dem zweitplatzierten Land, und der Anteil der USA an den weltweiten Märkten für Software und Hardware für künstliche Intelligenz ist um ein Vielfaches größer als der Chinas. US-Firmen können diesen technologischen Vorsprung nutzen, indem sie fortschrittliche Automatisierung einsetzen, um weitläufige globale Lieferketten durch vertikal integrierte Fabriken in den Vereinigten Staaten zu ersetzen.

    Diese Entwicklungen werden die wirtschaftliche Abhängigkeit der USA von anderen Ländern verringern und dem Land ermöglichen seinen „America first“-Kurs beizubehalten und ihm ermöglichen als unanfechtbare „rogue superpower“ die Erde zu dominieren.

    Herrliche Aussichten…was halten Sie davon?

  8. Ich finde es nicht optimal, dass neue Beiträge bzw. Antworten nicht der Zeitschiene folgen, sondern offenbar direkt unter dem Vorgänger-Beitrag einsortiert werden. Das kann mit der Zeit ziemlich unübersichtlich werden, ist das änderbar ?

    Sonst muss man jedesmal alles durchscrollen, um zu sehen, ob irgendjemand irgendwo geantwortet hat.

  9. «Das kann mit der Zeit ziemlich unübersichtlich werden, ist das änderbar ?»

    Das ist anpassbar. Bei der jetzigen Einstellung gibt es allerdings keine direkte Antwortfunktion für einen Kommentar mehr. Die geht nur, wenn man wenigstens zwei «Ebenen» zulässt. Dann ist es wiederum nicht mehr strikt chronologisch.

  10. –> Wie kommen Sie darauf, dass die Ukraine überschüssige Fachkräfte bzw. eine schnelle und hinreichend gute Fachkräfteausbildung hat? Die geht nur, wenn man wenigstens zwei «Ebenen» zulässt. Dann ist es wiederum nicht mehr strikt chronologisch. <–

    Ja, das kenne ich. Die Ebenen muss man manchmal auch aufklappen, um Antworten auf die Kommentare zu sehen. Na ja, weiß auch nicht, was da besser ist.

  11. Man koennte ja bei jedem Kommentar erstmal den Namen des Adressaten hinschreiben. Dann brauchte der dann nur seinen Namen mittels Suchfunktion (Strg + F) eingeben und schon wuesste er, ob ihm jemand geantwortet hat. Funktioniert auch noch nach Tagen und bei hunderten Kommentaren. So hatte ich das bei «denkzone /dz 8» auch immer gemacht.
    Und das 2-Ebenen-Problem haette sich auch erledigt.

  12. https://blog-samstagern.ch/2022/10/22/die-krisen-des-westens/#comment-36

    Okay, hat man, falls man inflationaer schreibt (d.h. mehrere Kommentare hintereinander) gleich die Antwort auf den richtigen Kommentar.

    «Der Name steht schon automatisch darüber.»

    Ja, loest aber das Problem nicht. Das fuehrt dann ja nur zum eigenen Kommentar. Weiss man immer noch nicht, ob da jemand irgendwann geantwortet hat. Da nuetzt dann uebrigens der Link auch nichts, wenn man die Antwort mit Link nicht findet. (Oh› -sehe gerade, dass Sie jetzt auch die eingerueckten Kommentare wieder auf Linie gebracht haben.)

    Ansonsten gilt, wenn man den Adressaten im Text verwendet, sollte der dann schon auch correct geschrieben sein , sonst funktioniert die Suchfunktion nur bedingt. (In meinem Fall hatten Sie z. B. ein «r» vergessen. Den Dreckfuhler hatte ich naemlich extra fuer Ihre Website korrigiert.) Was Sie selbst betrifft ist freilich voellig egal ob Herr Jeschke, GJ, iziti, Professor oder anders steht, da Sie sowieso alles lesen.

    Ihre Meinung zu Nakodha’s Link-Artikel? Kenne «foreignaffairs» nur vom Namen. Ist deren Analyse glaubhaft?

  13. Naja gut, dann ist das erst mal so, ich denke auch, die einzelnen Beiträge könnten optisch besser abgesetzt werden, so auf den ersten Blick lassen sich die Textsegmente nur schwer vereinzeln.

    So. Über die wirtschaftliche Perspektive hatte ich ja schon einige Sätze geschrieben, ich kann diese als deutlich positiver wahrnehmen, als im Bericht prognostiziert.

    Wenig verwunderlich dann, dass ich dieses auch bei der Bewertung der demokratischen Strukturen so sehe, auch wenn diese sich gleichermaßen im Umbruch befinden. Die Ausgangs-Strukturen der ‚alten‘ BRD basierte auf einem 3-Pateien-System, CDU und SPD als große Volksparteien, als Königsmacher dann die deutlich kleiner FDP, welche bis zu Hans-Dietrich Genscher im thematischen Ursprung ebenfalls sehr breit aufgestellt war. Die politische Philosophie war auf Kontinuität ausgelegt, hatte man sich doch zwischen Nato und EWG sehr bequem eingerichtet, die kleine BRD legte wohl keinen Wert darauf, international in der ersten Reihe zu stehen. Das gibt nur Ärger, und dafür war dann die USA zuständig.

    Diese Strukturen brachen dann mehr und mehr auf, als neue Parteien die Bühne betraten, insbesondere ‚die Grünen‘ und später ‚die Linke‘ konnten sich im Wählerspektrum etablieren, beides allerdings monothematisch aufgestellt Parteien, worin ich dann den eigentlichen Umbruch sehe. Das Verlassen der Gesamtsicht auf eine Gesellschaft und die damit verbundene Priorisierung einzelner Themen generiert eine Unwucht im Entscheidungsprozess, welche im Rahmen einer Volkspartei und deren Gesamtsicht auf politische Entscheidungen war und ist eine Herausforderung für den demokratischen Rahmen. Allerdings auch nur möglich durch eine ebenfalls monothematisch aufgestellte Presse, welche gleichermaßen die gesamtgesellschaftliche Sicht verloren hat, hier wurde Fachkompetenz der wirtschaftlichen Not geopfert, wie vermeidbar dieses war, weiß ich nicht. Auch hierzu ein geliehenes Zitat (‚Zerbi‘ Senior): Die Fachjournalisten der 70-er Jahre hätten diese Parteien inhaltlich zerbröselt, weil diese Parteien weder über eine ökonomische noch ein Fiskalkompetenz verfügen und -viel schlimmer noch – diese auch nicht für erwünscht halten. Weil sie dann nämlich selbst zugeben müssten, dass sie da eher mit frommen Wünschen als realisierbaren Projekten unterwegs sind.

    Diese Republik wird lernen müssen, mit dieser Herausforderung umzugehen, dass dies gelingen kann, zeigt sich in einer aktuell einsetzenden Nivellierung bei der Einschätzung monothematisch gewählter Minister bzw. Ministerinnen. Dennoch entspricht es in vollem Umfang dem Postulat einer Demokratie, weil diese Parteien ja tatsächlich durch die Bevölkerung gedeckt sind, sie sind Ausdruck einer aktuellen Stimmungslage in diesem Land. ob man dieses jetzt gut findet, oder nicht. Dass es in diesem Kontext eine ‚schweigende Menge‘ gibt, das war schon immer so, und ob es ein Vorteil ist, wenn jemand eher zufällig oder aus der Tagesform heraus irgendwo ein Kreuz hinmalt, das sei nochmal dahingestellt.

    So. Mal bis hierher, muss jetzt leider weg. Das ‚politische Personal‘ folgt.

  14. «Dennoch entspricht es in vollem Umfang dem Postulat einer Demokratie, weil diese Parteien ja tatsächlich durch die Bevölkerung gedeckt sind»

    Nun ja, es ist eine Parteiendemokratie und die Bevölkerung kann nur zwischen den Parteien wählen, die es gibt. Man kann ja auch mit dem gesamten Parteienspektrum unzufrieden sein – das geht tatsächliche vielen Leuten so – und da das Gründen von Parteien nicht verboten ist, folgt nach kurzem Nachdenken, dass diese Leute eigentlich mit der Funktion des politischen Systems insgesamt unzufrieden sind.

    Aus meiner Sicht lässt sich die westliche Demokratie am Ehesten so stabilisieren, wie sie in der Schweiz stabilisiert ist, nämlich durch eine starke direktdemokratische Komponente. So, wie das vielen Politikern in der Schweiz aber gar nicht gefällt, weil es ihre Macht stark einschränkt, gefiele das den Politikern in Deutschland auch nicht. Deswegen geht es damit auch nicht vorwärts. Es gibt nur immer Ausflüchte, warum in Deutschland nicht funktionieren würde, was in der Schweiz ganz offensichtlich funktioniert.

  15. Nerazzurra fragt nach «Foreign Affairs».

    «Foreign Affairs» ist einer von wenigen Lichtblicken in der westlichen Medienlandschaft. Die Zeitschrift ist auf Aussenpolitik fast ausschliesslich aus US-amerikanischer Sicht spezialisiert, manchmal gibt es Gastbeiträge aus der Sicht von US-amerikanischen Verbündeten.

    In diesem Rahmen ist die Zeitschrift/Webseite sehr gut gemacht. Es kommen verschiedene Richtungen zu Wort. Fast alle Autoren argumentieren rational, ohne Fakten zu unterschlagen. Die unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen durch verschiedene Gewichte zustande, die den Fakten bei der Extrapolation in die Zukunft gegeben werden und durch verschiedene Wunschvorstellungen, wie diese Zukunft aussehen soll.

    Wenn man ab und an «Foreign Affairs» liest, kann man seinen Geist und seine eigenen analytischen Fähigkeiten üben.

    Was den von Nakhoda verlinkten Artikel angeht, so teile ich die Annahme nicht, dass die USA dominant bleiben. Sie haben in verschiedenen Weltgegenden im Vergleich zu China ja bereits an Einfluss verloren. Es ist aber natürlich immer so, dass die Zukunft das ist, was wir nicht kennen. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

  16. Vielen Dank fuer die Information und Ihre Einschaetzung. Ich wollte das mal wissen, weil Nakhoda in/ auf dieser Zeitschrift/ Webseite scheinbar oft liest und auch verlinkt.

    «Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.»

    Nun ja… oft zitiert und trotzdem nicht ganz logisch: Wie kann erstens wissen, was zweitens denkt?

  17. Vielen Dank, Herr Jeschke, für Ihren guten (und gut lesbaren!) Artikel zu einem umstrittenen, schwer greifbaren und notorisch schwer diagnostierbaren Thema! Sie schreiben vorsichtigerweise über die „»Krisen des Westens“ und vermeiden damit schon einmal, ein sehr komplexes Phänomen auf einen griffigen Nenner bringen zu müssen. Danach konzentrieren Sie sich in Ihrer Symptombeschreibung vor allen Dingen auf ökonomische und politisch-strukturelle Aspekte. Ich habe das, wie schon geschrieben, mit großem Interesse gelesen und finde die Darstellung auch plausibel.

    Im anschließenden Kommentarstrang bezweifelt ein Kommentator rundweg die Sinnhaftigkeit des Artikels: „»den“ Westen als Kollektivsingular gebe es nicht und gäbe es ihn, dann sei er nicht in der Krise, sondern habe höchstens einen Schnupfen (Ich paraphrasiere hier hart an der Grenze zur Karrikatur, ich weiß). Der zweite Kommentator wirft ergänzend den Aspekt der Demographie auf und stellt – unter Verweis auf einen Artikel aus „»Foreign Affairs“ – die Geburtenstärke in den USA als Zeichen der Vitalität des westlichen Blocks zur Diskussion. Auch diese kritischen Anmerkungen waren für mich aufschlußreich.

    Ich teile Ihren Krisenbefund und möchte aber das Thema „»Krisen des Westens“ an dieser Stelle aus einer kulturellen Perspektive aufgreifen. Wenn man nämlich vom „»Westen“ spricht, meint man damit meistens wohl nicht nur und nicht hauptsächlich ein geographisches bzw. ein rein materiell-politisch-ökonomisches Gebilde, sondern hat, mindestens implizit, eine dieses Gebilde integrierende Kultur im Sinn. Es ist dann jeweils dieses politisch-kulturelle Modell, welches den „Apparaten“ Bedeutung und Richtung gibt. Ich halte es für keine grobe Vereinfachung zu sagen, daß der „Westen“ seit knapp 250 Jahren seine Identität in einem „»liberal-demokratischen“ Denken (vor-) findet und daß genau dieses liberal-demokratische System in der Krise ist bzw. (Achtung: Politologendeutsch:) gegenwärtig aufhört, das hegemoniale Modell zu sein.

    Auf einer geopolitischen Ebene lässt sich diese Behauptung an der medialen Rezeption und dem prognostischen Wert zweier berühmt-berüchtigter Zeitdiagnosen aus den 1990er Jahren illustrieren: F. Fukuyamas „»The End of History and the Last Man“ und S. Huntingtons „»The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“.
    Fukuyama vertrat die Auffassung, daß sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs das liberal-demokratische System des Westens endgültig im ideologischen Jahrhundertdreikampf gegen den (Radikal-)Faschismus und dann den Kommunismus durchgesetzt habe. Deshalb sei es nur folgerichtig, von einer Verallgemeinerung dieses Modells im Weltmaßstab auszugehen. Der Westen habe gesiegt, weil er sich als die materiell erfolgreichste und ideell überzeugendste Option historisch durchsetzen konnte. Die natürliche Entwicklung schien in Richtung von Kants Ewigem Frieden zu liegen und die existentiellen Abgründe größerer bewaffneter Konflikte und Kriege endgültig einer ideologisch verwirrt-verworrenen Vergangenheit anzugehören.
    Diesem hochgesinnten Fortschrittsidyll setzte ein ehemaliger Universitätsprofessor von Fukuyama, Samuel Huntington, seine düstere, spenglerische Prognose vom Aufeinanderprallen der Zivilisationen entgegen. Anstelle der ideologischen Blöcke tauchen aus seiner Sicht wieder Völker, Nationen und Kulturen auf. Diese treten, zu größeren zivilisatorischen Einheiten verdichtet und zusammengefasst, in einen dauerhaften Wettstreit zueinander, der stets auch die Form intensiver bewaffneter Auseinandersetzungen entlang kulturell-identitärer Konfliktlinien annehmen kann. Wo also Fukuyama den neuen, bald ewigen Tag eines liberal gerahmten Friedens heraufdämmern sieht, ist bei Huntington der Krieg auf Dauer gestellt. Hier gibt es grundsätzlich nichts Neues unter der Sonne: es wird weiterhin gekämpft und getötet werden, auch (und gerade) für Ideen. Mit den Zivilisationen treten uralte, kollektive Mächte auf den Plan, die man keinesfalls ignorieren kann, wenn einem das Überleben lieb ist.
    Huntingtons Zeitdiagnose wurde in den Feuilletons (und auch akademisch?) häufiger verrissen als Fukuyamas politologisches Schäferspiel. Aus dem Abstand von 25 Jahren betrachtet erscheint mir Huntingtons Diagnostik aber sehr viel plausibler zu sein. Der Untergang des Ostblocks markiert hier keineswegs den Endsieg des Westens, dem nur noch übrig bliebe, den liberal-demokratischen Segen – urbi et orbi – zu spenden. Vielmehr stellen die 1990er einen Gipfelpunkt des Liberalismus dar, dem ab 2001 die Talfahrt ins kulturell, allzukulturell zyklische Getümmel mit Segen, Flüchen, Bomben, Bonzen, Bauern, Krieg und Frieden noch bevorsteht. Der Rest bis 2022 ist dann doch noch Geschichte und nicht ihr von Fukuyama beschworenes Ende.

    Das westliche, liberal-demokratische Modell kriselt demnach genau im Moment seines scheinbar größten Triumphes. Nachdem es alle seine ideologischen Gegner im kurzen 20 Jahrhundert aus dem Weg geräumt hat, findet es sich dennoch in einer historischen Landschaft wieder, die es der eigenen Gesellschaftsauffassung nach gar nicht mehr geben dürfte: Nation, Blut, Krieg, Ethnie, Herkunft, Religion etc. Um bloß keinen Irrtum zugeben zu müssen, formuliert der Liberalismus eine kognitiv entlastende Ad hoc-Hypothese: er sieht eine Wechselwirkung von materialer Repression, Täuschung und falschem Bewußtsein am Werk. Wer demnach in einem nichtliberalen Staat bereits auf der Seite des liberal-demokratischen Gedankens steht, erhebt seine Stimme unfreiwilligerweise nur deshalb nicht, weil er brutal-körperlicher Repression ausgesetzt ist. Und wer in demselben Staat freiwillig ein nichtliberales „»Regime“ unterstützt, der tut das gar nicht im „»eigentlichen“ Sinne, freiwillig, sondern weil er durch Propaganda in ein falsches Bewußtsein hineingetrickst wurde. Huntingtons „»Zivilisationen“ wären aus Perspektive dieser Ad Hoc Hypothese eher ein Produkt aus staatlich-medialer Gehirnwäsche und der physischen Unterdrückung „»eigentlich“ liberal-demokratischer Massen durch ewiggestrige Eliten.

    Der in letzter Zeit vielzitierte J. Mearsheimer hat dieser Sicht in seinem Buch „»The Great Delusion: Liberal Dreams and International Realities“ widersprochen. Er hat dabei ausdrücklich an die eben skizzierte Diskussion zwischen den beiden beiden US-amerikanischen Portalfiguren einer neuen Ära westlicher Außenpolitik angeknüpft. Dabei hat er versucht zu erklären, warum die westliche (d.h. dann auch: im wesentlichen US-amerikanische) Außenpolitik seit den Clintonjahren schnell in eine Serie von Pleiten, Pech und Pannen abgerutscht ist und von dieser Front her die Krise auf Dauer gestellt schien. Mearsheimer sieht die USA ab den 1990er Jahren von einer realistischen Balance-of-Power-Politik wegschwenken und sich stattdessen immer entschlossener auf eine Strategie der „Liberal Hegemony“ einschießen. Diese Strategie beinhaltet das Ziel, soviel Staaten wie möglich (als Sein Bild, als Bild des Westens) in liberal-demokratischen Staaten zu verwandeln, internationale Organisationen und internationales Recht stark auszubauen und auch die ökonomischen Beziehungen hin zu einem globen Markt zu intensivieren, zu verdichten, zu vereinheitlichen und zu verflüssigen. Eine solche Politik schließe konsequenterweise permanente Versuche zum Regime Change sowie ein immenses Vertrauen in das anschließende Social Engineering im Globalmaßstab mit ein.
    Dem Liberalismus, so argumentiert Mearsheimer, sei eine universalistische Kreuzzugsmentalität über seine individualistische, naturrechtliche Doktrin eingeschrieben. In den 1990ern führte eine historische einmalige unipolare Situation zusätzlich dazu, daß er in Gestalt der einzig verbliebener Supermacht USA seinen Urinstinkten scheinbar ohne nennenswerten Widerstand nachgehen konnte. Die Tatsache, daß diesem enthusiastischen Ikarus der Nationalstaaten recht bald die Flügel wegschmolzen und er Bekanntschaft mit dem ewig chaotischen Ozean der nicht-westlichen Staatenwelt machen musste, erklärt Mearsheimer durch zwei blinde Flecken der liberalen Ideologie. Liberale übersehen in ihrem naturrechtlichen Optimismus systematisch erstens die kulturell-kollektivistische Logik der Nation/des Nationalismus und zweitens die kollektiv-strukturelle Logik des Staates. Wegen der Schwerkraft von Staat und Nation und ihrer Wechselwirkung muß jedes liberale, universalistische, vertragsrechtliche Großprojekt der Einen Welt und des Ewigen Friedens zwangsläufig scheitern. Mearsheimer stellt sich damit sehr eindeutig auf die Seite von Huntington und ergänzt dessen kulturelles Modell um den strukturellen Faktor „»Staat“/„Staatslogik“. Ähnlich wie schon bei Huntington, spricht der prognostische Wert von Mearsheimers Arbeiten für seinen Realismus. Bei den liberalen außenpolitischen Prognosen beeindruckt dagegen vornehmlich die Fähigkeit, sich von schmerzlichen Realitäten abzukoppeln und sich (vor allem großmedial) der eigenen Überlegenheit und dem Stehen auf der «richtigen“ „»Seite“ „»der“ «Geschichte“ zu versichern.

    Der Westen ist also auf einer geopolitischen Ebene zunehmend in eine Krise und ins Zwielicht geraten. Die liberale Hegemonie steht nicht mehr glänzend in der prächtigen Mittagssonne, sondern wirft in der beginnenden Götzendämmerung immer längere Schatten. Das gilt nicht nur für den sich wandelnden Charakter der internationalen Beziehungen, sondern betrifft auch die innenpolitischen Verhältnisse. Es gibt hier sogar eine Beziehung zwischen Außen und Innen: Je mehr Schlachten im Namen der „»Menschheit“ in aller Herren Länder geschlagen werden, desto unheimlicher, so scheint es, wird es an der Heimatfront.

    Es geht ja wieder ein Gespenst um im Westen – diesmal das Gespenst des Populismus. Und ähnlich wie die Strategie der „liberal Hegemony“ an der eigentümlichen Einäugigkeit und den blinden Flecken seiner Anhänger scheitert, scheint der Liberalismus auch seine innenpolitische Krise begrifflich nicht so recht fassen zu können. Es ist in den interessiert besorgten Medien schon seit längerem Mode geworden, grundsätzlicheren Dissens in kulturellen Fragen als Faschismus, Post-Faschismus, Semi-Faschismus, Toxische Männlichkeit, Rassismus, Misogynie, Transphobie, White Privilege, White Supremacy, Islamophobie, Hate Speech etc.etc.etc. zu brandmarken. (Um bei dieser Dämonologie auf dem neuesten Stand zu sein, reicht es übrigens regelmäßig die Prawda des Westens zu lesen -die Rede ist selbstverständlich von der NewYorkTimes – oder irgendeine Geistes- oder Sozialwissenschaft zu studieren…). Wie schon in der Aussenpolitik kann das liberal-demokratische Regime die Gestalt und Ursache ihrer Krise (innenpolitisch in Gestalt des Populismus) nicht so richtig auf den Begriff bringen und ergeht sich lieber in kognitiv dissonanten Hau-Ruck Aktionen.

    Die Schwierigkeit, das Phänomen und die Ursachen des Populismus zu greifen, liegen aus meiner Sicht unter anderem darin begründet, daß sein Auftauchen wesentlich auf kulturell-ideelle Faktoren zurückzuführen ist und sich in deutlich längeren Wellen als beispielsweise die relativ hektischen Konjunkturzyklen der Ökonomie vermuten lassen zu einer Macht aufgebaut hat, mit der man in Zukunft – sichtbar oder unsichtbar – wird rechnen müssen. Was als populistischer Stil in Erscheinung tritt, ab und an Wahlen gewinnt bzw. Wahlergebnisse erzielt, welche die etablierten Parteien mindestens kurzzeitig immer wieder Zuflucht zu einer Populismus-Light-Rhetorik suchen lässt, ist seiner Natur nach subversiv, gespenstisch, schattenhaft, unheimlich. Houellebecq hat in seinem letzten Roman „Anéantir“ diese Unheimlichkeit des Gesellschaftskörpers (und auch des menschlichen Körpers) aus Sicht eines zunehmend die Kontrolle verlierenden Steuerungszentrums luzide beschrieben. Die Fundamente des liberalen Regimes werden unterspült und in den unterirdischen Gemäuern nisten sich Gestalten ein, die man lange für ausgestorben, für besser erzogen oder für hinreichend abgespeist hielt. Erschreckt stellen Politiker und Redakteure fest, daß diese Gestalten schon länger zur Gegenbeobachtung und Gegenaktion übergegangen sind, und der Vorwurf des Faschismus, der Transphobie, des Rechtsextremismus etc.etc.etc. vermehrt nur noch Achselzucken auslöst. Ob diese sich seit Jahrzehnten anbahnende Subversion in Europa und den USA nur den Liberalismus oder Liberalismus und Demokratie gemeinsam im Visier hat, ist eine der größeren Streitfragen in der Populismusforschung.

    Margaret Canovan hat in ihrem Buch „»The People“ Populismus als „Schatten der Demokratie“ konzeptualisiert (Das Volk: ein Wort bei dem hochsensible Liberale schon zusammenzucken oder Herpes bekommen. Bestenfalls gilt hier: „Das Volk ist eine wunderbare Sache, nur die Leute sind so schrecklich“). Er ist als keinesfalls anti-demokratisch, sondern artikuliert korrigierend die Bedürfnisse und Forderungen eines Volkes, dem in einem liberal-demokratischen System einerseits eine Stimme und Partizipation versprochen wurde, während andererseits gewohnheitsmäßig technokratisch über dessen Kopf hinwegregiert wird. Die (ähnlich gelagerten) aktuell virulenten Widersprüche zwischen Demokratie und (angeblicher) Systemnotwendigkeit, Partikularismus/Identität und Universalismus, Individualismus und Kollektivismus, System und Lebenswelt, Herkunft und Konstruktivismus, Ethnie, Volk, Nation und „»Menschheit“ bezeichnen eine Reihe von Krisensymptomen des Westens, die ein vorläufiges Endes liberaler Hegemonie anzeigen.

    Bei diesem Verlust der Hegemonie, dieser (mehr liberalen als demokratischen) Krise, spielen materielle Faktoren sicherlich eine bedeutsame Rolle. Um das Ob und Wie des Krisenanzeigers „Populismus“ zu begreifen, sind allerdings kulturelle Faktoren und ihr Wechselspiel mit materiellen Aspekten entscheidend Die Autoren Roger Eatwell & Matthew Goodwin haben mit ihrem «National Populism – The Revolt Against Liberal Democracy“ eine vergleichende Studie zu den aktuellen Populismen in den USA und Europa vorgelegt. Dabei haben sie als längerfristige Ursachen des aufsteigenden Populismus vier materiell-ideelle Trends ausgemacht, die sie alliterierend Distrust, Deprivation, Destruction und De-alignment nennen.
    „»Distrust“ meint dabei den Vertrauensverlust, den zentrale Institutionen und die Politikerklasse in den Augen des Publikums erlitten haben. In den letzten Jahren/Jahrzehnten hat danach messbar der Glaube abgenommen, daß mediale-politische-soziale Eliten noch eine Verbindung zu den „einfachen“ Leuten haben und von daher wird auch zunehmend weniger davon ausgegangen, daß „»die da oben“ denen da unten“ eine Stimme geben können. Distrust bezeichnet also eine Vertrauens- und Repräsentationskrise.
    „»Deprivation“ drückt die Überzeugung aus, daß man als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe schlechter gestellt wird als die Mitglieder anderer sozialer Gruppen. Diese Überzeugung ist im Westen in unterschiedlichen Bevölkerungsteilen angestiegen. Der sich häufende Eindruck ist insbesondere, daß Minoritäten verschiedenster Couleur (ethnisch, sexuell, geographisch, die sexuelle Orientierung betreffend,etc.) aber auch bestimmte ökonomisch definierte Klassen sytematisch und unberechtigterweise bevorzugt werden. Hier spielen offensichtlich ökonomische und kulturelle Faktoren (die Verteilung materieller Mittel und von Anerkennung) eine Rolle.
    Rein ideell ist dagegen die gestiegene Furcht vor kultureller Zerstörung („»Destruction“) bei verschiedenen sozio-ökonomischen Gruppen. Hier ist die Befürchtung dominant, als Ethnie, als Nation, als kulturelle Gruppe mit bestimmten Traditionen, Mythen, einer Identität, einer Sprache, einer unverwechselbaren Geschichte, einer Religion usw. an den Rand gedrängt, ausgetauscht, irrelevant gemacht und dann schließlich zum Verschwinden gebracht zu werden. Die Furcht ist eng mit der sich beschleunigenden (nicht-europäischen) Migration und dem damit zusammenhängenden dramatischen demographischen Wandel im Westen verbunden. (Die Rechten sprechen dabei eher vom „Bevölkerungsaustausch“ während die Linken Formeln wie beispielsweise „Créolisation“ bevorzugen. In der politischen Mitte übt man rhetorisch diesbezüglich Zurückhaltung und versucht, das Phänomen durch technokratisch klingende Vokabeln möglichst zu entdramatisieren bzw. am besten ganz unsichtbar zu machen.)
    „De-alignment“ meint schließlich das gehäuft auftretende Phänomen der volatilen Wähler. (Volks-)Parteien verlieren zunehmend an Bindekraft und auch an Halt in vormals parteiloyalen Milieus. Jene werden entsprechend schneller und leichter mittels Wählerwanderung bzw. Wahlabstinenz abgestraft und müssen auf parteilicher oder auf gesellschaftlicher Ebene immer fragilere Koalitionen schmieden.
    Wo mindestens einer dieser Trend-Faktoren und natürlich erst recht wo alle Aspekte gebündelt individuell auftreten, steigt deutlich die Wahrscheinlichkeit, daß diese Person sich einer (rechts-) „populistischen“ Partei zuwendet und dem liberalen Modell sein Vertrauen entzieht. Die durch zahlreiche empirische Studien gestützte und in historische Betrachtungen zur Geschichte populistischer Parteien eingebettete Forschungsarbeit macht beispielhaft die Vielgestaltigkeit der „Revolte gegen das Liberal-Demokratische Modell“ deutlich. Die durch etablierte Medien immer von neuem ventielierte Vorstellung, daß das Krisenphänomen allein auf (Alte) (Arme) Weiße Männer mit Hang zu Fascho-Lösungen zurückzuführen sei ist falsch. Von daher wird sich die populistische Revolte auch nicht halb von selbst (durch Wegsterben) und halb durch die Konjunktur (durch Trickling Down und größere Krümel für die weißen Massen) erledigen.

    Mir scheint die Krise des Liberal-Demokratischen Modells des Westens jedenfalls außer Frage zu stehen, aber das bedeutet natürlich nicht, daß der Westen geographisch von der Landkarte verschwindet oder das in 50 Jahren Starbucks, Pornhub, Tesla, Twitter etc. keine Umsätze mehr machen werden. Aber wieviel werden die Menschen, die dort arbeiten, noch von ihrem kulturellen Erbe, ihren Traditionen, ihrer Geschichte, den kollektiven Erinnerungen, den nationalen und zivilisatorischen Projekten Europas und des Westens herübergerettet, an die neuen geschichtlichen Herausforderungen angepasst und dadurch eben lebendig gehalten haben?

    Das könnte auch eine spirituelle Frage sein. Einer meiner Lieblingsreaktionäre, Michel Houellebecq, hat in einem Interview mit Iris Radisch 2015 sehr direkt und ganz grundsätzlich die Kampf- und existentielle Durchhaltekraft des Westens in Frage gestellt.

    ZEIT: Das empfehlen Sie uns aber: die Aufklärung hinter uns zu lassen?
    Houellebecq: Ich weiß nicht, ich sehe so viele Menschen, denen sie nicht genügt, denen es schlecht geht. Jedes Mal, wenn ich auf eine Beerdigung gehe, spüre ich, dass der Atheismus unserer Gesellschaften unerträglich geworden ist.
    ZEIT: Der Tod ist nicht auszuhalten ohne Glauben?
    Houellebecq: Nein, er ist nicht auszuhalten.

    Mir ging das nicht nur damals, aus persönlicher Erfahrung heraus, durch Mark und Bein. Andererseits wirkt die übernüchterne Sicht Houellebecq paradoxerweise bei mir auch wie ein Antideppressivum und wieviel Kampf für den Westen und gegen die „liberale Hegemonie“ noch bei mir übrig ist, wird sich zeigen. Mit einem steril gewordenen Liberalismus (dessen einzige Vision in einem technologisch getriebenen Transhumanismus zu liegen scheint), wird der Westen allein nicht aus seiner Krise kommen.

    • Interessanter Kommentar. Besonders die Buchvorstellungen, von denen ich nur die von Huntington und Fukuyama kannte.

      Allerdings ’ne Loesung fuer die Krise(n) des Westens haben Sie auch nicht.

      • Doch, ich habe schon eine Lösung: Eine Haltung entwickeln zu religiösen, ethischen und politischen Fragen und sich dann danach richten ist ein Anfang. Und dann muß man eben weitermachen, komme was da wolle. So haben es meine (Ur-)Ahnen gehalten und das bleibt der einzige Weg,denke ich – trotz Internet.

        • Also sich nach religioesen Fragen richten, finde ich ueberhaupt nicht gut. Max. privat, wenn’s den Menschenrechten nicht widerspricht. (D.h. keine Zwangsverheiratungen, Kopftuchzwang, Genitalverstuemmlungen usw.) Ansonsten d’accord.

          • Bei mir ist es gewissermaßen genau umgekehrt: mich interessieren «Menschenrechte» nicht sonderlich, philosophisch ist ein Menschenrechtsuniversalismus unhaltbar und politisch schadet dieser mehr als das er nutzt. Was die religiösen, letzten Fragen angeht: ich wüsste nicht, wie man dazu keine Haltung entwickeln kann. «Keine Haltung» ist in diesem Sinne auch eine Haltung – bloß eben eine ausweichende, liberal permissive Haltung.

            • «.. ist ein Menschenrechtsuniversalismus unhaltbar und politisch schadet dieser mehr als das er nutzt.»

              Dass er politisch schadet und dass er universal nicht durchsetzbar ist, stimmt. Das bedeutet aber nicht, dass die Ideen falsch sind. Es laesst sich nicht ueberall umsetzen, das ist das Problem. Und, na klar – die meisten Menschen interessieren sich auch nicht dafuer, solange es sie nicht selbst betrifft. Da kann man denen auch keinen Vorwurf machen. Die sind halt wie sie sind, ein «Konstruktionsfehler» quasi von Anfang an schon.

              «Was die religiösen, letzten Fragen angeht: ich wüsste nicht, wie man dazu keine Haltung entwickeln kann.»

              Was meinen Sie denn damit? Sinn des Lebens, Leben nach dem Tod, gibt es Gott, Goetter oder anderes?

              Ich weiss nur, dass Religion (neben dem Nationalismus) die Hauptursache von Kriegen quer durch die Geschichte der Menschheit war und heute noch ist.

        • «Eine Haltung entwickeln zu religiösen, ethischen und politischen Fragen»

          Die Crux ist, dass es zu all diesen Fragen derzeit in der Bevölkerung nicht eine Haltung gibt, sondern viele, teilweise diametral entgegengesetzte. Und auf keinem dieser Gebiete ist das rational lösbar. Religion beruht notwendig auf Glauben und in der Ethik geht man von Werten aus, deren richtige Wahl nicht beweisbar ist. Die Politik folgt im besten Fall wenigstens als Zielvorstellung den in der Ethik gesetzten Werten.

          Ob in einer Gesellschaft ein gemeinsamer Glaube oder eine gemeinsame Wertebasis entsteht, liegt nicht in der Hand einzelner Menschen, wieviel Macht sie auch immer haben.

          Die beste Annäherung daran, dass die politische Führung eine Wertebasis durchsetzt, ist das in Orwells «Neunzehnhundertvierundachtzig» beschriebene System, also eine Dystopie.

          • «Die beste Annäherung daran, dass die politische Führung eine Wertebasis durchsetzt, ist das in Orwells «Neunzehnhundertvierundachtzig» beschriebene System, also eine Dystopie.»

            Und die beste gegenwärtige Annäherung daran in westlichen Gesellschaften heisst Wokeness.

          • Natürlich gibt es nicht nur eine Haltung, aber deshalb werde ich mir ja nicht wie ein überdomstiziertes Haustier selber verbieten, eine solche zu entwickeln und für diese (auch kämpfend) einzustehen. Viele Leute haben übrigens nach meiner Erfahrung gar keine Haltung, sondern wollen einfach nur nett sein. Die finden dann, daß «Imagine» von John Lennon ein prima Song ist, der eine schöne neue Welt beschreibt, während es mir dabei den Magen umdreht. Nietzsche beschreibt mit seinen zwinkernden «letzten Menschen» genau diesen haltungslosen Typus, der «das Glück erfunden» hat – grauenhaft.
            Ich habe auch ein geringes Interesse daran, meine letzten Prinzipien und Vorstellungen des Guten zu «beweisen» oder zu «diskutieren». Genau weil das so ist, halte ich liberale Theorien über Gesellschaftsverträge für einigermaßen absurd. Man landet am Ende immer bei Hobbes Leviathan oder bei irgendwelchen «ökonomischen» Vorstellungen von Politik. Politik ist aber nicht Tausch. Politik geht über Kompromisse hinaus und meint eine Sphäre, in der man gerade nicht mehr verhandelt, sondern kämpft. Das meinte ja Carl Schmitt als er Politik als Intensitätsverhältnis, für welches die Freund-Feind Unterscheidung entscheidend ist, beschrieben hat. In dieser Sphäre gibt es tatsächlich dann nur noch Machtverhältnisse und Konversionen. Das ist in einem kleineren Format als Nationalstaaten es sind durchaus vorstellbar und führt nicht unbedingt zu 1984. Umgekehrt befinden wir uns ja bereits in einem Szenario, welches sich als eine Mischung aller möglichen Dystopien (Time Machine, 1984, Brave New World etc.) darstellt. Und das hat eher mit zuviel Liberalismus/Individualistischen Vertragsmodellen und zuwenig Kommunitarismus, «Gemeinschaft», Kollektiv etc. zu tun. Aber eine Patentlösung habe ich selbstverständlich nicht. Die Pointe meines vorherigen Kommentars war schlichtweg, daß man keine andere Wahl hat als bei sich selbst anzufangen. Der Gedanke, daß man zuallererst versuchen sollte, besser, stärker, klarer, klüger und tugendhafter zu werden anstatt nach der richtigen Formel für die perfekt balancierte, «gerechte» Gesellschaft zu suchen, ist schwer aus der Mode gekommen und ich wollte ganz unmissionarisch daran erinnern.

            • «Der Gedanke, daß man zuallererst versuchen sollte, besser, stärker, klarer, klüger…zu werden…ist schwer aus der Mode gekommen»

              Nee, dass ist der Grundgedanke der kapitalistischen Marktwirtschaft. Und der das nicht kann, faellt durch’s Rost.

            • «Politik geht über Kompromisse hinaus und meint eine Sphäre, in der man gerade nicht mehr verhandelt, sondern kämpft. Das meinte ja Carl Schmitt als er Politik als Intensitätsverhältnis, für welches die Freund-Feind Unterscheidung entscheidend ist, beschrieben hat.»

              An diesem Verständnis von Politik haben wir gerade genug, scheint mir. Woran es fehlt, sind Verhandlungen und Kompromisse.

            • Auf die letzen Fragen gibt es keine Antwort. Man kann das akzeptieren oder glauben, man hätte eine solche gefunden.

              Das ist meine Haltung dazu. Ich wüsste aber nicht, warum ich kämpfend für sie einstehen sollte.

              Wahrscheinlich funktioniert eine Gesellschaft am Besten, wenn alle glauben, sie hätten die gleiche Antwort auf die letzten Fragen gefunden. Für den Einzelnen, der diesen Glauben einmal durch rationale Skepsis verloren hat, gibt es aber kein Zurück.

            • iziti sagt:

              «Und der ist tatsächlich schwer aus der Mode gekommen.»

              Noe.

              Weiss schon, Sie denken da an unsere politische Fuehrungseliten, die da groszteils keinen Abschluss haben und «die Jugend», die nicht mehr soviel arbeiten will – wie Sie das im Artikel auch schon beschrieben haben.

              Schaut man sich aber im realen Leben um, ist das nach wie vor der Fall. Jeder Firmenchef (damit sind auch Frauen und LGBTQIA+ gemeint) muss doch sehen, dass er besser, staerker, klueger ist als die Konkurrenz, um sich durchzusetzen und die Firma am Laufen zu halten. Genauso im Profisport oder auf anderen Feldern. Und im «kommunistischen» China ist das ja ganz extrem. Da muessen die «armen» Kinder von reichen Eltern selbst nach der Schule noch pauken, bis es ihnen zu den Ohren rausquillt. Oder die Eltern meinen, das ihr Sproessling irgendein (nicht vorhandenes) Talent hat, dass nun exzessiv verfolgt wird.

              Auch «tugendhafter» ist nicht positiv zu bewerten. Das fuehrt nur zur Ueberheblichkeit , Besserwisserei und Verachtung ggueber anderen. Sieht man gerade bei den Klimaaktivisten.

    • «Einer meiner Lieblingsreaktionäre, Michel Houellebecq»

      Kommt darauf an, wie man Reaktionär definiert. Das Faszinierende an Houellebecq ist ja gerade die Verbindung eines tiefen Moralismus mit der völligen Infragestellung dessen, was der Zeitgeist für moralisch hält.

      Houellebecq denkt nach vorn, nicht zurück. Ich würde ihn deshalb nicht als Reaktionär bezeichnen, genausowenig wie Nietzsche, an dem sich Houellebcq immer wieder reibt, reaktionär war.

      • Nietzsche würde ich auch nicht als Reaktionär bezeichnen und kann mich mit Ihrer Charakterisierung («nach vorne denken») leicht anfreunden – überschäumender Vitalismus und die Suche nach der «Großen Gesundheit».
        Bei Houellebecq bleibe ich bei meiner Qualifizierung als Reaktionär (und meine es überhaupt nicht abwertend). Er ist Reaktionär in demselben Sinne wie beispielsweise Huysmans oder Schopenhauer welche waren (Huysmans hält in Soumission lange Jahre die Phantasie des Protagonisten im Bann. Auch Schopenhauer wirft in einigen Romanen seinen Schatten…). Es gibt keine positive Gegenvisionen und die Hauptakteure reagieren entsprechend eher als das sie handeln. Houllebecqs Romane nehmen ein Glücksversprechen der Moderne nach dem anderen auseinander («befreiender» Sex, Tourismus, Biopolitische Optimierungsprojekte, psychopharmazeutische Emotionsregulierung, transhumanistische Projekte usw.) und den Protagonisten bleibt eigentlich am Schluß selten mehr als die Leere und der Tod. Im letzten Roman gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer in Gestalt der manchmal gelingenden ehelichen Liebe und dem familiären Zusammenhalt. Daß sich Houellebecq trotzdem nicht in die Belle Epoque zurücksehnt stimmt. (Allerdings hat er sich mal sehr positiv über das Zweite Kaiserreich unter Napoleon III geäußert und hat das vielleicht zu einem Drittel ernst gemeint.)

  18. Ich würde Ihnen beiden sehr gerne antworten, aber irgendwie sind die Antwortbutton ausgegangen.Oder ich stelle mich als funktionaler digital-Annalphabet wieder einmal ausnehmend blöd an…Sonst antworte ich heute Abend in einem neuen Fenster.

    • Schade, dass Sie nun doch nicht in einem neuen Fenster geantwortet haben.

      «Was die religiösen, letzten Fragen angeht: ich wüsste nicht, wie man dazu keine Haltung entwickeln kann.»

      Ich haette zu gern gewusst, was fuer Sie genau die religioesen, letzten Fragen sind.

    • Yo, Sie sind ein Genie.

      Oder, um es etwas nuechterner zu sagen:

      «Er wird einfach anhand der gleichen Ueberlegungen zum gleichen Ergebnis gelangt sein.»

      Allerdings habe ich dann doch einen Kritikpunkt.

      Er sagt: «Ich fürchte, dass wir im Westen eine immer tiefere Trennung zwischen den Klassen sehen werden, in der radikalere Formen von Unterdrückung, politischer Gewalt und Populismus wahrscheinlicher werden.»

      Stimmt erstmal – aber das ist nicht nur ein westliches Problem. Im «Osten» gibt’s das schon: radikale Formen der Unterdrueckung, politische Gewalt, im Prinzip auch Populismus der Eliten. Nur dass man von «aussen» vielleicht die Trennung der Klassen dort nicht sieht oder sehen will.

      (Okay – sehe gerade die Ueberschrift: Es ging um die «Krisen des Westens»)

        • Nee, bei Ihnen ist das schon klar.

          Ich habe aber zunehmend den Eindruck, dass sich in der «systemkritischen» Bewegung (oder wie man die auch nennen mag) von links bis rechts so eine falsche Hoffnung breit macht, dass z.B.die BRICS-Staaten (frueher waren es mal die lateinamerikanischen: Kuba, Venezuela, Bolivien, noch frueher auch Nicaragua, Vietnam..) demnaext das Ruder uebernehmen werden und dann irgendwie eine «bessere Welt» entsteht.

  19. Der Plural im Titel gefällt mir.
    Ich kann kaum noch aufzählen, wieviele Einzelkrisen wir erarbeitet haben.
    Liegt es am Personal? Es scheint so.
    Vieles ist recht kompliziert geworden, die Politik hat es nicht einfach. Woher kommt diese Komplexität? Einen großen Teil hat der Gesetzgeber selbst geschaffen und kommt nun nicht mehr damit klar.
    1 Milliarde einsparen kostet 500 Millionen in der Verwaltung. So etwa hat sich die Bürokratie entwickelt. Und ob das jeweilige Spiel rechtskonform ist, scheint den Zuständigen auch nicht ganz klar zu sein, obwohl viele als Rechtsanwälte ausgebildet sind.
    Mit dem täglichen Leben, der Wirtschaft auf Kriegsfuß und nicht einmal juristisch sattelfest. Was dabei herauskommt kann man täglich verfolgen.
    Man könnte nun sagen, Krisen sind nichts Neues, kommen immer wieder vor. Man kann sie bewältigen.
    Richtig, nur was ist zu tun, wenn Politik und Verwaltung so träge sind, daß in der Zwischenzeit 3 neue Krisen entstehen?
    In dieser Situation sind wir gerade. Tricksen und Dilettantismus ist deutlich erkennbar.
    Es ist zwar ruhig im Lande, aber das Mißtrauen in der Bevölkerung scheint nach den einschlägigen Umfragen zu wachsen.
    Sollte dieser Zustand anhalten, könnte das soziale und staatliche Gebilde von innen heraus zerbrechen.
    In Gesprächen erfahre ich, die Leute fürchten weniger eine Bedrohung von außen, sondern eher von innen. Die Verantwortlichen sind zwar greifbar, aber systematisch geschützt, siehe Scheuer.
    Auch immer mehr widersprüchliche Entscheidungen und Vorgänge zeigen, wir haben uns in Details, der Bürokratie und politischen Fehlentscheidungen dermaßen verheddert, daß kaum noch herauszukommen ist.
    Das ist selbstverschuldet und resultiert aus der Verantwortungslosigkeit der Entscheider.
    Ein Ergebnis ist der schnelle Aufstieg der AFD auf mittlerweile 23%. Dazu hat diese Partei nicht viel tun müssen.
    Die Leistungsverweigerer warnen nun vor dieser Partei und sind sich keiner Schuld bewußt.

    • «Ein Ergebnis ist der schnelle Aufstieg der AFD auf mittlerweile 23%. Dazu hat diese Partei nicht viel tun müssen.»

      Das wird sich fortsetzen und ein weiteres Stück vom Kuchen der etablierten Parteien wird die Wagenknecht-Partei abbeissen.

      Es wird immer mehr über ein mögliches AfD-Verbot geredet. Das wird das Problem nicht lösen, genausowenig, wie der Schwachsinn, denn das Oberste Gericht des US-Bundesstaat Colorado verzapft hat, das Problem Trump lösen wird. Nicht einmal der Tod Trumps würde das eigentliche Problem lösen, dessen Ausdruck Trumps Popularität ist.

      • «…ein weiteres Stück vom Kuchen der etablierten Parteien wird die Wagenknecht-Partei abbeissen.»

        Na, noch ist die nich im Ring. Man hofft ja, dass die dann (zu den Neuwahlen ’24) ein Stueck vom AfD-Kuchen abbeisst.

        • «Man hofft ja, dass die dann (zu den Neuwahlen ’24) ein Stueck vom AfD-Kuchen abbeisst.»

          Von dem sicher auch, aber auch sicher nicht nur von dem. Die steigt mit Sicherheit in den Ring. Es ist nur noch nicht klar, mit welchem Kampfgewicht. Allerdings reicht gegen die Ampel-Koalition und Dinosaurier Merz auch schon Federgewicht aus.

          • Okay – Federgewicht reicht gegen Fliegengewicht.

            Federgewicht reicht aber weder fuer die Vernuenftigen und Gerechten noch die von rechts auch nur (im Bund) mitregieren zu koennen – sofern Brandmauer und nationale Front stehen.

            • Nun ja, um einen gewissen Einfluß zu haben muß man nicht mit in der Regierung sein. Zur Zeit nähert man sich AFD Positionen, um diese nicht noch stärker werden zu lassen.
              Wie groß der Einfluß ist ist natürlich auch davon abhängig, wie fest die Regierung im Sattel sitzt. Auch welche Koalitionen man eingehen muß, um eine Mehrheit zu erlangen.
              Siehe gerade die FDP, die eher die Rolle der Opposition spielt.
              Interessant wird es in 1-2 Bundesländern, in denen diese Partei über 30% erreicht hat. Dort könnten ungünstige Koalitionen entstehen um die Mehrheit zu schaffen.
              Die kommende EU Wahl könnte einen Ausblick bieten, ebenso die Länderwahlen 2024.

              • «Interessant wird es in 1-2 Bundesländern…»

                Neueste Umfrage Sachsen:

                https://dawum.de/Sachsen/Civey/

                Und gerade im Infotext des Heimatsenders gelesen:

                «Minsisterpraesident M. Kretschmer hofft nach den Landtagswahlen 2024 auf eine Mehrheitsregierung ohne AfD.» (Kryptisch.)

                Wird spannend. Zumal der Elefant (besser das Federgewicht) im Raum fehlt ja noch.

                • In Sachsen kann man nicht völlig ausschließen, dass nur noch zwei Parteien in den Landtag kommen und die AfD die stärkere der beiden sein wird. Oder dass auch dort AfD und Wagenknecht-Partei zusammen auf eine Mehrheit der Landtagsmandate kommen. Die werden zwar nicht miteinander koalieren, aber gegen diese beiden Parteien ist eine Minderheitsregierung nicht möglich.

                  So weit zum Thema Brandmauer. Wenn das Feuer heiß genug ist, fällt die.

              • «Zur Zeit nähert man sich AFD Positionen, um diese nicht noch stärker werden zu lassen.»

                Das ist zwar in der Migrationsfrage so, aber wenn man all den anderen M*st anschaut, den die Ampel-Regierung derzeit verzapft, wird das netto nur der AfD in die Hände spielen. Man gibt der AfD de facto in einer Frage Recht, ohne mit den Maßnahmen so weit zu gehen, wie die AfD verlangt und vermutlich auch ohne das Problem zu lösen. In den anderen Fragen versinkt man im Chaos. Das kann nicht gut gehen.

                Wenn die ein Fünkchen Verstand hätten, würden sie Neuwahlen anstreben, solange die Nationale Front noch insgesamt eine Mehrheit hat. Das verschiebt das Problem zwar auch nur um 4 Jahre, aber immerhin.

            • Ich wäre bei der politischen Dynamik nicht so sicher. Die Ampel hat in den Augen der Bevölkerungsmehrheit fertig. Ich denke nicht, dass der Merz-Söder-Union viele eine wesentlich bessere Politik zutrauen.

              Sehr wohl denkbar ist derzeit, dass bei der Landtagswahl 2024 in Thüringen die gesamte Nationale Front im Parlament keine Mehrheit mehr erreicht. Dafür würden so etwa 46-48% für AfD und Wagenknecht-Partei zusammen ausreichen. In der Wahlumfrage vom 09.11.2023 lag allein die AfD bei 34%. Sollte Maaßen tatsächlich noch eine Partei gründen, wäre es fast sicher, dass die Nationale Front in Thüringen die Mehrheit verliert.

              Sollte das geschehen, dann ist noch ein Jahr Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl (falls die Nationale Front nicht schlau genug ist, diese vorzuziehen). In ihrer Reaktion auf die Situation, die dann in Thüringen, Sachsen und Brandenburg herrschen wird, wird die Nationale Front gute Möglichkeiten haben, sich innerhalb dieses Jahres komplett unmöglich zu machen (und die sie unterstützenden Journalisten haben diese Möglichkeit auch). Nach allem, was ich bisher beobachtet habe, werden weder die Nationale Front noch die wohlmeinenden Journalisten diese Chance auslassen.

      • Die AFD hat ja schon schlimmer agiert. Insofern sieht es danach aus, daß ein Konkurrent beseitigt werden soll. Anstatt eine bessere Arbeit abzuliefern.
        Im Prinzip wäre ich auch für ein Verbot, aber damit ist nichts ereicht, vielleicht mehr geschadet. Da stimme ich mit Ihnen überein.
        Daß eine rassistische, in Teilen neo-nazistische Partei in dieser Größe überhaupt entstehen konnte, ist von der Ursache her gedacht das eigentliche Problem.
        Das Schönreden von Krisen verfängt nicht mehr.

        Ach ja, Lehrermangel. Gibts den nicht seit 40 Jahren? So lange wie eine Umgehungsstraße dauert?

        Ein Betrieb der funktioniert wie der Staat, würde von diesem wohl geschlossen. Nicht umsonst wird in letzter Zeit immer wieder die Demokratie und der Rechtsstaat beschworen, an die die Bevölkerung immer weniger glaubt. Die Glaubwürdigkeit ist, wenn einmal verloren, schwer zurückzugewinnen wie man weiß.
        Das handwerkliche Agieren der Führungsriege braucht man nicht zu beschreiben um den Niedergang deutlich zu machen. Es gibt laufend neue Beispiele.
        Das Problem ist eben, der Wähler kann nur wählen was angeboten wird. Und das Angebot ist dürftig. Man kann es auch eine Krise der Parteien nennen.
        Bei Scholz könnte man den Eindruck gewinnen, er wollte den Job nie übernehmen, als ob man ihn genötigt hätte. Vielleicht war es auch so.
        Krise als Chance, was für ein Schlagwort. Chance für wen?
        Steinbrück sagte vor Kurzem, jemand in seiner Gehaltsklasse braucht keine Subvention einer Wall-Box, wenn man schon Eigenheim plus Solar auf dem Dach und E-Mobil besitzt. Da hat er ein Grundproblem angesprochen das für Unmut sorgt.
        Man kann auch das böse Wort Umverteilung nennen, de facto ist es ja so.
        Die untere Hälfte der Bevölkerung wird abgekoppelt und finanziert den Wohlstand der anderen Hälfte. Vergessen wird dabei, das kann man nur mit einer Minderheit machen. Ist die Anzahl zu groß entstehen die Probleme die sie Länder haben, in denen das so ist.
        Ich habe kein Interesse hier Rentnerinnen am Straßenrand zu sehen die Petersilie aus ihrem Garten verkaufen um über die Runden zu kommen. Habe ich mehrfach hier gesehen und die Umstände erfahren. Um Sozialhilfe zu betteln, weil die Rente nicht reicht sollte mit unseren Werten nicht vereinbar sein.
        Es wird langsam eh schwierig diese Werte zu definieren, so durchlöchert sind sie.

        • Bildungswesen: Die ETH Zürich wurde 1855 mit zwölf deutschen Professoren gegründet – warum – weil die Schweizer Universitäten damals verstaubt und die deutschen meodern waren. Auch das deutsche (preussische) Schulwesen war mal ein Vorbild.

          Pisa-Studie 2022 (veröffentlicht Anfang Dezember 2023):

          Die Schweiz liegt in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften deutlich über dem OECD-Durchschnitt, in Europa ist nur Estland besser. Deutschland liegt etwa beim OECD-Durchschnitt,deutlich hinter der Schweiz, in Mathematik auch hinter Oesterreich.

          Ja, Deutschland ist noch besser als Mexico. Die Deutschen beanspruchen aber einen sehr viel höheren Lebensstandard als die Mexikaner und wenn das mit der Bildung (und der Infrastruktur) so weiter geht, geht das nicht mehr.

          Aber wer braucht schon Infrastruktur? Wir brauchen nur erneuerbare Energien.

          • Ein altes Problem das schnell gar nicht gelöst werden kann. Man ist schon zu spät dran und wenn überhaupt, es wird Jahre dauern etwas zu erreichen.
            Wer heute schlecht ausgebildet wird, bildet die nächste Generation aus oder stellt sie ein.
            Die Ukraine Folgen haben die Situation noch weiter verschlechtert.
            Beispiel von hier: Viele Wochen fiel Mathe ganz aus, O.-Folien für Lehrer sind auf eine geringe Anzahl begrenzt, weitere haben sich Lehrer privat besorgt. Stundenausfall hoch, von 5 Toiletten funktioniert eine, der Rest desolat. Die Schulbücher, na ja.
            Ein Industrieland ist auf gut gebildete Leute angewiesen. Alle aus dem Ausland holen ist keine Lösung, denn was macht man mit den Anderen die eine weniger gute Bildung erhielten?
            Auch G8 war ein völliger Mißgriff und es ist typisch, wie lange man daran arbeitet um dies zu korrigieren.
            Wissen, lernen braucht Zeit, motivierte Lehrer und die Ausstattung. Da zu sparen wirkt sich Jahrzehnte lang aus.
            Sollte eigentlich jedem Politiker und Amtsschimmel klar sein.
            Nur hat man sich mit den Pisa Ergebnissen scheinbar abgefunden.

    • «Es ist zwar ruhig im Lande, aber das Mißtrauen in der Bevölkerung scheint nach den einschlägigen Umfragen zu wachsen.»

      Tja – um es kurz zu machen – faellt mir die Loesung ein:

      “Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?” (B.Brecht)

      Frau B. weiss auch schon welches.

      • «Frau B. weiss auch schon welches.»

        Dieses würde auch besser zu Olaf Warburg-Scholz passen. Der Nationaltanz ist dann der Tango corrupti und Rainhard Fendrich wird daher Nationaldichter. Vielleicht hat Fendrich als Oesterreicher ja Vorfahren aus Galizien, dann passt das auch.

            • Na gut, bei Oesterreich kenne ich mich nicht aus.(Kenne von den Lebenden nur Arnautović und hoffe der kommt noch zu grosser Form.)

              Ansonsten sind die USA kein Vergleich. Selbst wir sind besser.

              «…denn Russland will ja niemand in die EU aufnehmen.»

              Was iss’n das fuer ein ultraschlechtes Argument 😉 Weil die keiner in die EU aufnehmen will, kann dort der Wahnsinn galoppieren?

                  • Vielleicht kann ich etwas anfügen.
                    Izi hebt wohl darauf ab, daß man bei Geschäftspartnern, politischen Freunden, Staaten die man unterstützt andere Maßstäbe anlegen muß, als an «irgendwelche».
                    Da man in vieles von Mitgliedsstaaten involviert ist, sind natürlich auch die Erwartungen und Ansprüche höher. Sonst könnte man ja auch jeden aufnehmen ohne Rücksicht auf Verluste.
                    Nach jetzigem Stand, dürften mit der Ukraine gar keine Gespräche diesbezüglich beginnen. Das war immer der Standard. Ohne den Krieg und die NATO Aktivitäten wäre es auch so.

                    • Danke – alles richtig. War auch nur Spass. Dennoch war ich erstaunt, dass Russland in «Europa» an der ersten Stelle steht. Haette die auf jeden Fall hinter der Ukraine vermutet. Und die wiederum hinter paar armen osteuropaeischen Staaten.

                      Na ja Vorurteile…

                    • Na ja, so genau kann man diese Tabelle sicher nicht nehmen. Einen Trend bei seriöser Machart kann man ablesen, da aber nicht alle Beteiligten sich «melden» bleibt es eine Schätzung.
                      Nimmt man öffentliche Fälle in die Bewertung, wäre entscheidend ob und wie das Rechtssystem funktioniert. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein.
                      In manchen Ländern gehört Korruption schon zu traditionellen Gepflogenheiten, teilweise auch, weil Beteiligte schlecht bezahlt werden.

                    • In Litauen gab es zum Beispiel vor ein paar Jahren noch Korruption bei der Verkehrspolizei. Ob dem immer noch so ist, weiß ich nicht. Es würde aber erklären, warum Litauen da sehr viel schlechter abschneidet als Deutschland.

                      Allerdings denke ich wie Sie, dass es nicht sonderlich sinnvoll ist, Korruption durch eine einzelne Zahl abzubilden. Die Korruption, mit der sich der normale Bürger auseianderzusetzen hat und die Korruption, mit der große Firmen sich Märkte sichern, sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

                      Wenn man sich etwa Laufbahnen von Politikern (nach der politischen Karriere) anschaut, so erscheint mir der Korruptionsindex für Deutschland und andere EU-Länder zu niedrig eingeschätzt. EU-Brüssel mit seiner offensichtlich durch Lobbys beeinflussten Gesetzgebung ist hochgradig korrupt. Man muss sich nur anschauen, wie viele Lobbyorganisationen ständige Vertretungen in Brüssel unterhalten. Die geben das Geld ja nicht für Nichts aus.

  20. «Leistung soll sich lohnen».
    Schön gesagt, nur die, die das verkünden arbeiten schwer an leistungsloser Vermögensbildung bzw Akkumulation.
    Dadurch geht die Motivation Vieler zurück, auch die Art des Konsums verändert sich.
    Vermögende konsumieren meist anders als der Rest. Zum Beispiel arbeiten Fachleute an Millionenjachten die anderswo besser gebraucht würden.
    Kapital hat Einfluß, lenkt die Art der Produktion, setzt Trends. Unausgewogenheit führt dabei zu Verwerfungen die nicht mehr einzufangen sind.
    Geld wird immer mehr mit unproduktiver Tätigkeit oder unsinnigen Geschäftsmodellen gemacht. Für sinnvolle Dinge fehlt nun das Kapital. Besonders bei der einkommensschwachen unteren 50% Bevölkerung.
    Das geht einige Zeit gut, endet aber mit Zuständen, die man in manchen Staaten beobachten kann.
    Da auch Vermögende sich dann gestört fühlen, beginnen diese sich abzuschotten.
    Ungünstig aber zwangsläufig, Beispiele gibt es genug. Gegenlenken ist nicht sichtbar.

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