Ökonomie des Drohnenkriegs


Ukraine Die im Iran entwickelte Shahed-136-Drohne ist auf sehr niedrigem technischem Stand. Strategisch gesehen ist sie jedoch hochgefährlich.

Geran-2

Bei den Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur seit dem 10. Oktober setzt Russland eine große Zahl von Geran-2-Drohnen ein. Geran-2 ist der russische Codename für die vom iranischen Hersteller HESA entwickelte und produzierte Kampfdrohne Shahed-136. Der Iran hat eingeräumt, solche Drohnen vor dem Ukraine-Krieg an Russland geliefert zu haben. Westliche Länder und die Ukraine behaupten, es habe auch während des Krieges solche Lieferungen gegeben, legen aber dafür keine Belege vor. Die Washington Post hat am 19. November 2022 berichtet, dass der Iran und Russland in einem Geheimabkommen Anfang November übereingekommen sind, dass Russland die Drohne mit einer Vorlaufzeit von einigen Monaten in Gestattungsproduktion selbst fertigen wird. Sie berief sich dabei auf Geheimdienstquellen.

Es überrascht, dass Russland mit seiner technologisch deutlich höher stehenden Rüstungsindustrie ein iranisches Waffensystem kauft und sogar nachbauen will. Um das zu verstehen, müssen wir die technischen und taktischen Parameter der Shahed-136 betrachten. Falls Sie alt genug dafür sind, können Sie sich ein fliegendes DDR-Auto Trabant 601 vorstellen. Die Analogie geht erstaunlich weit. Beide Systeme werden von einem luftgekühlten, gemischgeschmierten Zweitaktmotor angetrieben. Der Hubraum (550 cm3 bei der Shahed-136, knapp 600 cm3 beim Trabant) ist ähnlich. Beide Motoren wurden ursprünglich in Deutschland entwickelt, derjenige der Shahed-136 bei Limbach (Königswinter) als Kleinflugzeugmotor L 550 E. Er wird inzwischen in China für militärische Drohnen nachgebaut. Der Iran produziert eine Raubkopie für die Shahed-136 selbst. Der Trabant hatte eine Außenhaut, die aus sowjetischen Baumwollabfällen bestand, welche mit Phenoplast verpresst wurden. Die Außenhaut der Shahed-136 besteht aus Papier, welches mit Phenoplast verpresst wird. Der Trabant ist 3,55 m lang, die Shahed-136 ist 3,5 m lang. Der Trabant ist 1,5 m breit, die Shahed-136 hat eine Flügelspannweite von 2,5 m. Die Drohne ist leichter (etwa 200 kg, Trabant etwa 650 kg) und ihr Vierzylindermotor hat bei gleichem Hubraum etwa die doppelte Leistung (37 kW) des Zweizylindermotors des Trabant 601 (17-19 kW). Damit ist die Drohne auch fast doppelt so schnell (185 km/h) wie der Trabant (100 km/h). Sie ist noch lauter, weil man bei Flugzeugmotoren auf einen Schalldämpfer verzichtet. Damit hat sie sich in der Ukraine den Spitznamen «Moped» eingehandelt. Die Reichweite des Trabant betrug mit einer Tankfüllung 250-350 km. Die Reichweite der Shahed-136 wird auf 1800-2500 km geschätzt. Damit kann sie von russischem oder russisch besetztem ukrainischem Territorium jeden Punkt der Ukraine erreichen.

Der Gefechtskopf der Shahed-136 ist 30-50 kg schwer, was in etwa einer 155-mm-Artilleriegranate entspricht. Der Vorteil gegenüber Artilleriegeschützen liegt in der deutlich höheren Reichweite (155-mm-Artillerie 30-50 km) und in der Programmierbarkeit des Ziels über GPS-Koordinaten. Ein wesentlicher Unterschied zu Kampfdrohnen westlicher, israelischer, russischer oder chinesischer Bauart ist, dass die Shahed-136 nicht aktiv steuerbar ist. Dementsprechend ist sie auch «blind», besitzt also keine Kamera. Es gibt daher nur drei, relativ niedrigkomplexe Einsatzszenarien. Erstens kann die Drohne fest auf ein Ziel programmiert und abgeschossen werden, woraufhin sie dieses Ziel direkt anfliegt. Sie wird dann entweder im Anflug vom Gegner abgeschossen oder sie erreicht die Umgebung des programmierten Ziels und richtet Schaden an. Zweitens kann die Drohne während des Fluges umprogrammiert werden. Das ist allerdings nicht über die gesamte Reichweite möglich, schätzungsweise sogar nur bis zu 150 km. Außerhalb dieses Radius ist die Shahed-136 auch noch «taub». Zieht man allerdings in Betracht, dass die Umprogrammierung auch vom Territorium von Belarus aus möglich sein dürfte, so ist dieses Szenario im Raum Kiew anwendbar. Betroffen sind davon auch Charkiw, Odessa, Saporischschja, Dnipro, Mikolajiw und Krywyh Rih, nicht aber Lwiw. Drittens kann die Drohne, wenn das Ziel deutlich unterhalb ihrer Reichweite liegt, auch «herumlungern» (loitering munition). Sie kann Kreise fliegen oder einen Großraum wieder verlassen und einen anderen ansteuern. In der Regel ergibt dieses Szenario nur Sinn, wenn das Ziel nach taktischen Gesichtspunkten umprogrammiert werden kann. Denkbar ist aber auch, solches Verhalten fest vorzuprogrammieren, um die gegenerische Luftverteidigung zu täuschen. Schließlich wird spekuliert, dass eine Umprogrammierung auch von einem Beobachter am Boden über Mobiltelefon möglich sein könnte. Dann wären das zweite und dritte Szenario über die gesamte Reichweite anwendbar, sofern Kollaborateure auf gegenerischem Territorium zur Verfügung stehen.

Ich bin 1984/85 zum Luftabwehroffizier (auf Zeit) ausgebildet worden. Auf den ersten Blick ist die Shahed-136 kein ernstzunehmendes Luftziel. Sie kann nur gegen stationäre Ziele eingesetzt werden, sie ist sehr langsam, sehr laut und kann Beschuss nicht ausweichen. Es gibt kaum etwas, was noch leichter abzuschießen wäre, sobald es in den Radius eines Luftabwehrsystems gerät. Diese Aussage muss allerdings bei schultergestützten Luftabwehrraketen, wie der amerikanischen FIM-92 Stinger, russischen 9K32 Strela-2 oder russischen 9K38 Igla, eingeschränkt werden. All diese Systeme verwenden eine passive Infrarot-Zielortung (IR). Das funktioniert gegenüber Kampfhubschraubern oder Erdkampfflugzeugen gut, weil diese aufgrund ihrer Triebwerke «heiße» Ziele sind, also viel IR-Strahlung abgeben. Ein luftgekühlter 550-cm3-Zweitaktmotor ist eine sehr schwache IR-Quelle. Wenn man die auch noch viel kleinere Geran-2 mit einer FIM-92 Stinger abschießen will, muss man beim Abschuss sehr viel genauer anpeilen als bei einem Kampfhubschrauber oder Erdkampfflugzeug. Außerdem dürfte die effektive Reichweite der FIM-92 bezüglich der Geran-2 oder Shahed-136 im Vergleich heißen Zielen erheblich kürzer sein. Eine weitere unangenehme Eigenschaft ist der geringe Radarquerschnitt der Geran-2 bei einer sehr geringen Flughöhe. Sie ist praktisch ein billiges Stealth-System. Insgesamt bleibt diese Drohne dennoch ein einfach zu bekämpfendes Luftziel.

Am Schluss dieses Abschnitts müssen wir noch mögliche Unterschiede zwischen der Shahed-136 und der Geran-2 in Betracht ziehen. Die Washington Post und die Times of Israel behaupten, dass Russland die Steuerelektronik durch eigene (hochwertigere) Mikroprozessoren ersetzt hat. Damit basiert die Navigation der Geran-2 wohl hauptsächlich auf dem russischen GPS- Äquivalent GLONASS und ist dadurch genauer als diejenige der Shahed-136.

Luftverteidigung gegen die Geran-2

Aus den bisherigen Ausführungen wird noch nicht klar, warum Russland auf das Design der Shahed-136 zurückgreift – und warum westliche Medien und Politiker so ein Aufheben deswegen machen. Russland produziert selbst wesentlich leistungsfähigere Kampfdrohnen. Obwohl der Iran für die Shahed-136 einen Gefechtsfeldeinsatz vorsieht, dürfte sie gegen gut ausgebildete und gut ausgerüstete Kampftruppen wenig ausrichten. Langsam und ungepanzert, wie sie ist, kann sie auch mit der Bordkanone eines Schützenpanzers und wohl sogar mit einem Maschinengewehr bekämpft werden. Gegen Kampftruppen an der Front würde man eher 155-mm-Artillerie einsetzen als die Geran-2. Das wäre auch billiger.

Effektiv ist die Geran-2 gegen «weiche» Ziele, wie etwa Infrastruktur. Im März 2022 wurden wahrscheinlich Shahed-136 für den Angriff auf eine saudiarabische Erdölspeicherstätte der Aramco eingesetzt. Zu dem Angriff haben sich die jemenitischen Huthi-Rebellen bekannt. Es gibt aber Spekulationen, dass er durch den Iran verübt wurde. Soweit bekannt, hat Russland die Geran-2 in der Ukraine nach einem ersten Überraschungsangriff gegen Kampftruppen im Raum Charkiw Ende September auch weitgehend oder sogar ausschließlich gegen weiche Ziele eingesetzt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Kraftwerke, Umspannstationen, Heizwerke und Wasserwerke. Russische Militärs haben öffentlich über Einsätze gegen das ukrainische Eisenbahnnetz spekuliert, um damit westliche Waffenlieferungen zu behindern. Die bisherige Strategie ist sehr erfolgreich. Die Ukraine gibt an, zwischen 65 und 85% der Drohnen abzuschießen – fast jeder Abschuss ein erhebliches finanzielles Verlustgeschäft für den Westen, wie wir gleich sehen werden. Der Rest, ergänzt durch Marschflugkörper (cruise missiles), hat die ukrainische Energieinfrastruktur in eine prekäre Lage versetzt. Bis Ende September hatte die Ukraine sogar noch Strom exportieren können. Warum ist dem so, wenn diese Drohnen eigentlich so leicht abzuschießen sind?

It’s the economy, stupid. Neben all ihren Nachteilen hat die Geran-2 zwei entscheidende Vorteile, die sie zu einem echten «Game-changer» machen. Das erklärt auch die Aufregung westlicher Kommentatoren, die auf Expertenmeinungen zurückgeht. Erstens ist die Geran-2 sehr billig. Schätzungen liegen zwischen 20’000 und 50’000 US$. Die von den USA an die Ukraine gelieferte Switchblade-Drohne kostet zwar nur 6000 US$ (Modell 300) oder 10’000 US$ (Modell 600), hat aber auch nur eine Reichweite von 10 km (Modell 300) oder 40 km (Modell 600). Die Gefechtsköpfe sind auch viel kleiner. Es ist eine Waffe mit ganz anderem Einsatzszenario. Für einen Angriff weit im Landesinneren des Gegners gibt es nichts auch nur annähernd so billiges wie die Geran-2. Zweitens, und das hängt mit dem geringen Preis zusammen, ist die Geran-2 einfach in großen Stückzahlen zu bauen. Nach dem Produktionsbeginn des Trabant 601 hat die DDR Ende der 1960er Jahre in einem einzigen Werk in Zwickau jährlich etwa 80’000 Stück produziert. Diese Zahl wurde bis zum Zusammenbruch der DDR auf etwa 140’000 Stück pro Jahr gesteigert. Nehmen wir an, dass Russland eine Produktionskapazität von 20’000 Geran-2 oder Geran-3 zu einem mittleren Stückpreis von 25’000 US$ aufbauen könnte. Das würde 0,5 Mrd. US$ kosten, etwa 0,6% des russischen Militäretats für 2023. Die Konsequenzen für die ukrainische Luftverteidigung wären dramatisch, wie ich im Folgenden ausführen werde.

Die Verhältnisse werden bereits etwas klarer, wenn man sich die Frage stellt, womit man die Drohnen abschießen will. In Frage kommen die bereits diskutierten schultergestützten Luftabwehrraketen (Stinger), längerreichweitige Luftabwehrraketen, wie etwa die Restbestände der Ukraine und ihrer Verbündeten an sowjetischen S-300-Raketen oder amerikanische Patriot-Raketen, Bordkanonen von Jagflugzeugen oder Fliegerabwehrkanonen (Flak). In modernen Armeen ist Flak praktisch nur noch auf Selbstfahrlafetten vorhanden. Die Bundeswehr hat seit der Außerdienststellung des Gepard gar keine Flak mehr, auch das amerikanische Heer hat sie vollständig durch teurere Raketen ersetzt. Nur kleinere NATO-Partner betreiben noch die ältere, in der Sowjetunion entwickelte ZSU 23-4 Schilka. Die Ukraine betreibt zwei eigene Weiterentwicklungen der Schilka und eine gewisse Zahl deutscher Gepard-Flugabwehrpanzer, deren Munitionsnachschub etwas prekär ist. Russland hat wegen bestimmter Vorteile der Flak, die ich unten diskutieren werde, im Gegensatz zum Westen weiter auf Selbstfahrlafetten gesetzt. Die modernen Systeme kombinieren Flak und kleine Flugabwehrraketen. Vorher wurde die Kombination der jeweiligen Vorteile durch Zusammenstellen der Flugabwehrbatterien aus verschiedenen Systemen erreicht. Die neuen kombinierten Systeme sind die 2K22 Tunguska und der 96K6 Panzir. Die Ukraine betrieb 2018 etwa 70 Tunguska, die sie noch in den 1990er Jahren angeschafft hatte. Ich selbst wurde 1984/85 auf der Schilka ausgebildet.

Preisschätzungen für Billigdrohnen, Marschflugkörper (cruise missiles) und verschiedene Luftabwehrraketen (Internet-Angaben). Eine Rakete des deutschen IRIS-T-Systems kostet etwa 0,5 Mio. US$. Der Preis eines US-Marschflugkörpers Tomahawk beträgt etwa 2 Mio. US$. Eine neue MiG-29 kostet etwa 20 Mio. US$, eine gebrauchte MiG-29 ist für etwa 5-9 Mio. US$ zu haben.

Die Abbildung zeigt, warum die Bekämpfung der Geran-2-Drohnen mit Flugabwehrraketen prinzipiell problematisch ist. Bereits die FIM92-Stinger ist mit einem gegenwärtigen Stückpreis von 120’000 US$ sehr viel teurer als die Drohne, die sie zudem nur in günstigen Fällen auch trifft. Langreichweitige Luftabwehrraketen, wie etwa die S-300, sind mit 1 Mio. US$ etwa 20-50 mal so teuer wie die Drohne. Die etwas kürzerreichweitige Buk-Rakete kostet rund 200’000 US$. Beim Einsatz einer Patriot-Rakete kann man den Preis der zerstörten Drohne bereits vernachlässigen. Jeder solche Abschuss kostet etwa 4 Mio. US$, während der Angriff vergleichsweise nichts gekostet hat.

Bei der Bekämpfung mit der Bordkanone eines Jagdflugzeugs sehen die Verhältnisse im Prinzip etwas besser aus, weil die Munition der Bordkanone sehr viel billiger ist. Gleichwohl ist das keine erfolgversprechende Option. Das Radar der MiG-29 kann die kleine, tieffliegende Drohne nicht entdecken. In der Nacht ist sie auch optisch praktisch unauffindbar, weil sie im Gegensatz zu einer Rakete oder einem Marschflugkörper keinen Feuerschweif aufweist. Einer der erfolgreichsten ukrainischen Kampfpiloten hat dennoch in der Anfangsphase des Einsatzes der Geran-2 Mitte Oktober bei Winniza fünf der Drohnen abgeschossen. Allerdings trafen die Trümmer der fünften Drohne sein Cockpit. Wadym Woroshylow konnte sich verletzt mit seinem Schleudersitz retten. Die MiG-29 ging verloren. Eine neue MiG-29 kostet etwa 20 Mio. US$. Das konnte ich in die Abbildung nicht integrieren. Man hätte den Balken für die Geran-2 sonst gar nicht mehr gesehen. Je nach Schätzung für die Geran-2 hat das Kampfflugzeug den 400- bis 1000-fachen Preis. Selbst eine gebrauchte MiG-29 kostet zwischen 5 und 8 Mio. US$.

Bei den bisher diskutierten Bekämpfungsmethoden dürfte der Abschuss einer Geran-2 die Ukraine im Durchschnitt mindestens 200’000 US$ gekostet haben (sehr optimistische Schätzung). Es stellt sich dann die Frage, ob man die Drohnen überhaupt bekämpfen soll. Allerdings kann ein 40-kg-Gefechtskopf sehr viel mehr Schaden anrichten als 200’000 US$. Diejenigen Geran-2, die nicht abgeschossen wurden, haben wohl im Durchschnitt auch sehr viel mehr Schaden angerichtet. Zudem lässt sich eine Taktik des Fliegenlassens gegenüber der Bevölkerung nicht vertreten. Es ist dennoch anzunehmen, dass die ukrainische Seite diese Taktik gelegentlich verfolgt. Im Folgenden erkläre ich, warum.

Zielkanäle

Ich betrachte die Situation jetzt aus der Sicht eines Offiziers, der die Luftverteidigung einer größeren Region leitet. Idealerweise verfügt er in seinem Gefechtsstand über die volle Information über anfliegende Angreifer und deren gegenwärtige Positionen. Wegen der schlechten Radarsichtbarkeit muss das bei der Geran-2 nicht unbedingt während des gesamten Anflugs gegeben sein. Wegen ihrer Langsamkeit nehmen wir hier aber an, dass die Information zumindest früh genug für eine Bekämpfung eintrifft. Die Aufgabe des Offiziers ist es, den einzelnen Einheiten Zielzuweisungen zu erteilen. Er trifft die Entscheidung, welche Einheit welches Ziel bekämpfen soll. Dafür zieht er die Positionen der Angreifer und der eigenen Einheiten in Betracht, den möglichen Schaden, den die einzelnen Angreifer anrichten werden und die technischen Möglichkeiten der eigenen Einheiten. Eine wichtige Information ist dabei die Anzahl der Zielkanäle, die eine Einheit (noch) zur Verfügung hat. Genauer gesagt muss der Offizier wissen, wie viele Luftziele eine Einheit in ihrem Umkreis erfassen und verfolgen kann und wie viele Raketen oder auch Kanonen sie gleichzeitig einsetzen kann. Wenn es in einem gewissen Zeitraum und einem gewissen Umkreis mehr Angreifer gibt als Zielkanäle, muss man einzelne Angreifer einfach fliegen lassen. Man wählt dafür diejenigen aus, von denen man den geringsten Schaden erwartet. In unserem Beispiel sind das immer die Geran-2, weil alle anderen Angreifer größere Gefechtsköpfe haben und zielgenauer sind.

Mitte Oktober kamen die Schwärme von Geran-2 für die ukrainische Seite so überraschend, dass diese Zielzuweisung nicht immer optimal lief. Genau darauf war die russische Taktik ausgerichtet. Man griff zunächst mit einer Welle billiger Geran-2 mit kleinen Gefechtsköpfen an. Die ukrainische Luftverteidigung schoss diese weitgehend ab, woraufhin die Lafetten aber nun leer waren oder die Anzahl der Zielkanäle zumindest stark verringert war. Dann schickte die russische Seite eine Welle teurer Marschflugkörper mit großen Gefechtsköpfen hinterher. Diese kamen zu einem viel größeren Anteil durch als das ohne die vorherige Geran-2-Welle der Fall gewesen wäre. Weil die Geran-2 so billig und in so großer Stückzahl verfügbar sind, ist diese Taktik leicht abgewandelt sogar ohne Marschflugkörper anwendbar. Man schickt in einem kurzen Zeitraum mehr Geran-2 als die ukrainische Seite abfangen kann. Der zeitbestimmende Faktor ist die Neubestückung der Lafetten mit Raketen. Bei langreichweitigen Raketen dauert das vergleichsweise lange. Sobald die Zielkanäle der Luftverteidigung aufgebraucht sind, wird jede weitere Geran-2 ihr eigenes Ziel erreichen.

Dieses Problem besteht nicht nur während eines ausgedehnten Luftangriffs, sondern auch mittel- und langfristig. Russland kann die Ukraine nicht mit Geran-2-Angriffen bankrott bomben. Die Ukraine ist bereits seit geraumer Zeit bankrott. Russland kann auch nicht den Westen bankrott bomben, der die Ukraine derzeit finanziert. Mit 4000 Drohnen und einem mittleren Abschusspreis von 200’000 US$ (plus die Schäden, die von nicht abgeschossenen Drohnen angerichtet werden) ergeben sich zwar bereits Kosten von über 1 Mrd. US$. Das liegt aber noch in der Größenordnung, die der Westen bereit ist zu akzeptieren, damit Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Allerdings handelt es sich hier nicht um ein rein finanzielles Problem. Die niedrigere Preis der Geran-2 spiegelt auch wider, dass sich die Drohne schneller und mit geringer qualifiziertem Personal bauen lässt als eine Flugabwehrrakete. Hier verlassen wir den Raum der Taktik. Die Geran-2 hat eine strategische Dimension. Sie ist geeignet, die Zahl der Zielkanäle der ukrainischen (und westlichen) Luftverteidigung dauerhaft und stark zu verringern.

Mögliche Auswege

Die gegenwärtige ukrainische Luftverteidigung gegen die Geran-2-Drohnen ist, um es mit einem Modebegriff auszudrücken, nicht nachhaltig. So billige Drohnen können auf Dauer nicht mit Luftabwehrraketen oder durch Kampfflugzeuge bekämpft werden. Der ukrainische Militärattache in den USA hat behauptet, dass Schilka- und Gepard-Flak-Panzer sehr effektiv gegen die Drohne seien. Das ist zwar an sich plausibel. Es ist aber ganz und gar nicht plausibel, dass die Ukraine sich mit diesen Systemen sehr geringer Reichweite (Schilka 2 km, bis 1,5 km Höhe; Gepard 5 km bis 3,5 km Höhe mit der besten Munitionsvariante) gegen die Geran-2 verteidigen kann. Um eine einigermaßen zuverlässige Rundumverteidigung eines weichen Ziels gegen einen angreifenden Schwarm (5 Drohnen) zu gewährleisten, wird man wohl einen ganzen Zug Schilka (4 Flakpanzer) benötigen. Je nach Geländelage kann selbst das noch diffizil sein. Falls mehr als 5 Drohnen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums angreifen, kann es auch knapp werden. Man muss also die Zahl von weichen Zielen in der Ukraine, auf die aus russischer Sicht ein Angriff mit Geran-2 lohnt, mit etwa 4 multiplizieren. Dann erkennt man leicht, dass der Ukraine nicht annähernd so viele Flakpanzer zur Verfügung stehen, wie sie für dieses Szenario benötigen würde. Abgesehen davon ist die aktive Frontlinie in der Ukraine 850 km lang und die dort stehenden Truppen benötigen auch eine Luftabwehr.

Es lässt sich nicht recherchieren, ob die Ukraine oder einige ihrer Verbündeten noch alte Flakgeschütze eingelagert haben. Für einen Schutz weicher Ziele im Landesinnern gegen Geran-2-Drohnen wären sie ausreichend. Die Ausbildung der Mannschaften würde nicht lange dauern. Eine Bekämpfung der Drohnen mit Flak hätte den Vorteil, dass die zur Vernichtung nötige Munition sehr viel billiger ist als die Drohne selbst. Man müsste Mannschaften haben, die bei jedem Luftalarm in Bereitschaft sind. Deren Aufgabe wäre allerdings relativ ungefährlich. Eine noch etwas billigere Lösung ist die Verwendung uralter sowjetischer Maschinengewehre DShK (EInführung 1938) mit 12.7 mm Munition, die mit Suchscheinwerfern ausgerüstet werden können. Die meisten Abschüsse von US-Hubschraubern und Flugzeugen im Vietnamkrieg sind dem DShK zuzschreiben. Leute, die damit eine Drohne abschießen können und auch die Nerven dafür haben, würden aber eigentlich an der Front benötigt.

Eine moderne Lösung ist das Anvil-System von Anduril. Es ist allerdings auch so kurzreichweitig, dass man ein System für jedes weiche Ziel in der Ukraine installieren müsste. Dafür dürfte es auf absehbare Zeit weder die Produktionskapazität noch die finanziellen Mittel geben. Das System arbeitet mit automatischer Zielerkennung und kleinen Abfangdrohnen. Diese sind mit 160 km/h etwas langsamer als eine Geran-2. Wenn sie von vorn (und unten, das ist das Prinzip) angreifen, kann eine Vernichtung einer Geran-2 dennoch möglich sein. Die Effektivität dürfte aber erheblich geringer sein als gegen kleine, ihrerseits noch langsamere Drohnen. Ein System mit der nötigen Geschwindigkeit der Abwehrdrohne ist NiDAR von MARSS. Damit würden die Kosten pro Abschuss wohl zwischen 30’000 und 40’000 US$ liegen, was im Bereich des Preises der Geran-2 liegt und damit akzeptabel wäre. Allerdings erwartet MARSS nicht, den Profit mit dem Ersatz verbrauchter Drohnen zu machen, sondern beim Verkauf des Gesamtsystems. Der niedrige Preis pro Abschuss ist nur ein Verkaufsargument. Die hauptsächlichen Kosten fallen bei der Anfangsinvestition für das System an und dürften angesichts der Zahl möglicher Ziele in der Ukraine unrealistisch hoch sein. Zudem steht auch hier die Frage, ob die nötigen Stückzahlen kompletter Systeme ausreichend schnell produziert werden könnten. Die Geran-2 erzeugt hingegen keine wesentlichen Kosten über diejenigen pro Stück hinaus.

Geran-3?

Es ist unwahrscheinlich, dass Russland eine Kopie der Shahed-136 oder auch der leicht umgerüsteten Geran-2 bauen wird. Das System ist so einfach, dass es sich mit den Mitteln der russischen Rüstungsindustrie leicht verbessern lässt, ohne die Kosten erheblich zu erhöhen. Russland stellt ein sehr großes Sortiment von Gefechtsköpfen her, darunter auch solche mit zielsuchender Submunition, die vom Gewicht her von der Geran-2 getragen werden könnten. Vor allem aber betreibt Russland im Gegensatz zum Iran militärische Satelliten. Es sollte möglich sein, die Drohne mit relativ geringem Aufwand mit einem Empfänger zu bestücken, der es erlaubt, sie im Flug je nach der taktischen Lage umzuprogrammieren. Das wäre dann über die gesamte Reichweite möglich.

Fazit

Die Shahed-136 ist eine «Waffe des armen Mannes», die vom Iran im Sinne asymmetrischer Kriegführung entwickelt wurde. Russland hingegen produziert Waffensysteme, die in den meisten Fällen westlichen Systemen ebenbürtig und in einzelnen Fällen diesen sogar überlegen sind. Gleichwohl hat der russische Generalstab erkannt, dass Elemente asymmetrischer Kriegführung in der Auseinandersetzung mit dem Westen eine lohnenswerte strategische Ergänzung sind. Die Ukraine selbst kommt dabei nicht in Betracht. Sie hängt in ihrer gegenwärtigen Lage fast vollkommen von westlichen Entscheidungen bezüglich der Finanzierung und Beschaffung von Waffen ab. So wie das Wirtschaftssystem des Westens und dessen militärisches Beschaffungswesen aufgebaut sind, ist kurz- und mittelfristig keine adäquate Lösung der Probleme zu erwarten, die durch russische Angriffe mit einer sehr großen Zahl billiger Drohnen entstehen.

Es treten drei solche Probleme auf. Erstens hat die Ukraine derzeit keine ausreichende kurzreichweitige Luftabwehrkapazität, um die billigen Geran-2-Drohnen abzuwehren. Um große Schäden an ihrer Infrastruktur und eine starke Demoralisierung der Bevölkerung zu vermeiden, muss sie teure und schwer erneuerbare langreichweitige Luftabwehrraketen einsetzen. Dadurch befindet sich die ukrainische Luftverteidigung in einer Phase der Abnutzung. Zweitens treten trotz aller Bemühungen immer wieder große Schäden an der ukrainischen Infrastruktur auf, die nur teilweise beseitigt werden können. Dadurch befindet sich die Infrastruktur ebenfalls in einer Phase der Abnutzung. Drittens binden die ständigen Drohnenangriffe im ganzen Land Luftverteidigungswaffen und ihre Besatzungen, die dadurch nicht an der Frontlinie zur Verfügung stehen. Dadurch erleiden die Fronttruppen höhere Verluste durch Luftangriffe mit anderen Mitteln als das ohne die Drohnenangriffe im Landesinneren der Fall wäre.

Russland hat sich auf einen länger andauernden Krieg eingestellt und wird dem Vernehmen nach noch in diesem Jahr die Gestattungsproduktion einer weiterentwickelten Shahed-136-Drohne aufnehmen. Es ist daher mit einer Ausweitung solcher Angriffe zu rechnen, vermutlich bis hin zu Schwarmgrößen, welche die gegenwärtig verfügbare Luftverteidigung eines Zielgebiets vollkommen neutralisieren. Kritische Ziele im Landesinneren benötigen daher unbedingt eine Luftabwehr durch eine hinreichend große Zahl von Flak-Geschützen oder Maschinengewehren. Eine solche Luftabwehr wäre als einzige in der Lage, Ziele auch gegen den Angriff großer Schwärme der billigen Drohnen zu verteidigen.


13 Antworten zu “Ökonomie des Drohnenkriegs”

      • Fliegen konnte unserer leider auch nicht. Da ging’s mit meinen Eltern auch nur ein einziges Mal an die Ostsee und ab und zu mal in die ČSSR zum Einkaufen – also nur bis Děčín oder Ústí nad Labem. Aber immerhin waren wir (mit Verwandtschaft im Tross) auch einmal auf dem Jeschken.

  1. ich wusste nicht, dass die dinger blind fliegen, wieso nennt man sie überhaupt
    drohnen – dies sind cruise missiles auf propellerbasis! erst mit dem möglichen upgrade
    werden es drohnen – wenn man noch einen schritt weiterdenkt, wäre ein abwurf der ladung
    von interesse.

    • Auch eine «blinde» Drohne erfüllt die gängige Definition: «Eine Drohne ist ein unbemanntes Luft- oder Unterwasserfahrzeug, das entweder von Menschen ferngesteuert oder von einem integrierten oder ausgelagerten Computer gesteuert und damit (teil-)autonom wird.».

      In diesem Fall ist es ein integrierter Computer.

      Auch die Wikipedia-Definition schliesst autarke Systeme ein.

      Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr sieht es ebenfalls so.

      • bitte um klärung – ist Geran-2/Shahed-136 für Sie ein autarkes system? wegepunkte abzufliegen konnte die tomahawk von anfang an, samt der genauigkeit von 2 bürotischen 😉

        das eine feature: mitten im progr. flugweg ist ein update wohl nicht so definitions-entscheidend…. dann wäre eine flugabwehrrakete auch eine drohne, wenn sie mitten im flug neues ziel zugewiesen bekommen kann 😉

        aber ok – die definitionen sind wohl heute fliessend/ungenau….

        • «bitte um klärung – ist Geran-2/Shahed-136 für Sie ein autarkes system?»

          Ja, sie ist ein autarkes System. Sie findet nach dem Start ihr Ziel ohne menschliche Steuerung selbst.

          Die Tomahawk kostet das 100fache.

          Eine Flugabwehrrakete ist keine Drohne, weil sie eine Rakete ist. Raketen bezeichnet man unabhängig von ihrem Steuermechanismus nicht als Drohnen.

  2. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass die Shahed-136/Geran-2 ein langreichweitiges System ist, dass aber alle langreichweitigen Systeme zur Bekämpfung entweder viel zu aufwändig zu bauen oder ungeeignet (Jagdflugzeuge) sind.

    Die Bekämpfung mit kurzreichweitigen Systemen hingegen erfordert eine riesige Zahl solcher Systeme, weil man nicht vorab weiß, wo angegriffen wird.

  3. Die Taktik, solche Drohnen mit Jagdfkugzeugen zu bekämpfen, hätte noch einen weiteren – entscheidenden – Nachteil.

    Die mit Drohnen angreifende Seite weiß in der Regel jederzeit, wo sich diese befinden. Um sie mit der Bordkanone zu bekämpfen, muss der Jagdflieger sehr nahe dorthin. Die Drohnen würden damit zum Köder einer Jagdflugzeugfalle.

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