Dao-de-dsching Viele Worte gelten als ärmlich. Besser ist es, den Inhalt zu bewahren. – Lau-dse.

Vor 32 Jahren schon hatte ich keine Cracker für die Rehe im Nara-Park gekauft. Doch auch diesmal tritt mir eines in den Weg. «Du bist noch zu erkennen» sagt es. «Das ist selten». Ich frage zurück: «Wie kannst Du mich erkennen, Shika? Rehe leben gar nicht so lang.» Sie schaut mich irritiert an. «Du triffst hier immer auf mich. Weißt Du das nicht?» Die Bäume verschwimmen. Dann sind sie wieder da. «Verzeih, Shika. Ich war noch in der anderen Welt.»
«Erzähl mir von der anderen Welt.» fordert sie mich auf. «Damals suchte ich meinen Weg in die Wissenschaft. Auf der jetzigen Konferenz wollte ich herausfinden, was ich noch tun soll, ehe ich sie wieder verlasse.» Rehe können spöttisch gucken. «Du willst in sechs Jahren das Meer austrinken?» fragt Shika. «Ich will diejenigen nicht auf Irrwege leiten, die mir folgen.»
«Ein Schatten von Besorgnis liegt in Deinen Augen.» bemerkt Shika. Ich weiß, was sie meint. «Mehr als einen Tag war ich gereist. Am Abend im Novotel Nara war das Konferenzbüro noch besetzt. Namensschild, Essenmarken, Konferenzbroschüre. Das dauerte keine 30 Sekunden. Und dann der Finger auf der Zeile mit meinem Namen auf einem Umfrageformular. Ob ich denn bereit sei, mit chinesischen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten? Und in welcher Form? Ich entschied mich für «Ja» und «projektbezogen». Ich verstehe, warum es dieses Formular gibt.»
«Erst gestern sprach ich mit einem Chinesen» bemerkt Shika. Dann lässt sie mich weiterreden. «Das fing nicht mit Trump an. Schwarze Listen chinesischer Universitäten wurden schon auf Betreiben der Vorgängerregierung erstellt.» Das Reh nickt. «Der Chinese wirkte noch besorgter als Du.» Ich nicke zurück. «Die chinesischen Forscher sind früher in den Westen gegangen, um von uns zu lernen. Einige nach Europa, viele in die USA. Nachdem sie zu uns aufgeschlossen haben, wollen wir nichts mehr von ihnen wissen. Wir üben Verrat an unseren Schülern.»
«Wer lässt sich schon gern überflügeln? Als Du vor 32 Jahren hier warst, ging im Westen die Japan-Angst um.» erwidert Shika. Ich erinnere mich. Nach Jahrzehnten eines steilen Aufstiegs war damals gerade die Finanzblase in Japan geplatzt. Das japanische Selbstbewusstsein aber noch nicht. Die Statussymbole der westlichen Mittelschicht wurden hier produziert. Sony-Walkman, Canon-Kamera, Casio-Quarzuhr, Toyota-Autos. Zurück floss das Geld. Entsprechend gering war die Kaufkraft des Yen für Ausländer, die ihn mit ihrer schwächeren Währung kaufen mussten.
«Eine Zeit fast ohne ausländische Touristen» seufzt Shika. «Kam ein Ausländer vorbei, dann war er zum Arbeiten in Japan. Selbst das war selten. Hätte ich sonst einen so jungen Hund angesprochen?» Ich lasse die Pause verstreichen, die das Reh einlegt. Schließlich sagt sie: «Tapsig warst Du. Neugierig warst Du. Auf der Suche nach allem.»
Ich versuche abzulenken. «In Japan hat sich erstaunlich wenig verändert. Am wenigsten die Preise. Die Kaufkraftverhältnisse zu Europa haben sich seitdem umgekehrt. Die damals modernen Gebäude sind 32 Jahre älter geworden. Moderne Gebäude stehen heute in China. Die japanische Bahn scheint noch die gleichen Züge zu fahren wie damals. Sie fährt sie immer noch pünktlich. Nur das Selbstbewusstsein ist weg. Damals hatte der durchschnittliche Japaner drei Religionen, jede mit ihren eigenen Gebäuden. Shinto-Schreine, buddhistische Tempel und die großen Kaufhäuser an der Ringbahn von Tokyo. Das Selbstbewusstsein müssen die Japaner aus den Kaufhäusern bezogen haben.»
Das Reh bleibt beharrlich. «Tapsig bist Du nun nicht mehr. Neugierig bist Du immer noch.» Shika hält inne. Ich muss jetzt etwas sagen. «Angesprochen hast Du mich damals, weil ich auf der Suche war.» Sie schaut interessiert. «Zu denen, die ihre Suche aufgegeben haben, kann ich gar nicht reden.» Jetzt wage ich es. «Wer nicht mehr sucht, kann gefunden werden.» Shika entgegnet: «Wer offen ist, sich finden zu lassen, hat die Suche nicht aufgegeben.» Wieder diese Pause. «Wer gefunden wurde, sucht nur noch das, was ihn gefunden hat.» Sie schaut kurz in meine Augen. «Endlich redest Du in klaren Sätzen. Ich dachte schon, das würde wieder nichts.»
Dann wendet sie sich einem Touristen zu, der Cracker mitgebracht hat und lässt sich füttern.
9 Antworten zu “Shika – Nara – Butsu”
Ruehrende Geschichte
«Wer gefunden wurde, sucht nur noch das, was ihn gefunden hat.»
Wusste Shika, dass Sie da im Prinzip Franz Kafka zitieren?
https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/gorilla-am-nebentisch-die-liebe-finden-ohne-zu-suchen-ld.132064
«Wusste Shika, dass Sie da im Prinzip Franz Kafka zitieren?»
Kann schon sein, bei so einem shintoistisch-buddhistischen Reh. Bewusst habe ich es in dem Fall allerdings nicht getan, obwohl der Text ein paar andere kulturelle Referenzen aufweist (z.B. Kiplings Dschungelbuch).
Ich hatte es ja erst woertlich interpretiert: Sie wissen, dass Sie wer oder was gefunden hat. Und nun suchen Sie nur noch danach.
Nun ja, das Dschungelbuch hatte ich leider nie gelesen. Sonst waeren mir Aehnlichkeiten vielleicht aufgefallen.
Ist ja auch egal. Jedenfalls eine schoene, nachdenkliche Geschichte.
«Ich hatte es ja erst woertlich interpretiert: Sie wissen, dass Sie wer oder was gefunden hat. Und nun suchen Sie nur noch danach.»
Der Gedanke muss ja nicht falsch sein, nur weil ich beim Schreiben nicht an Kafka gedacht habe. Erstens könnte mir mein Unterbewusstsein einen Gedanken zugespielt haben, den ich vor langer Zeit bei Kafka gelsen und vielleicht damals nicht einmal völlig erfasst hatte. Zweitens wäre es aber auch möglich, dass ich auf anderem Weg an (fast) den gleichen Punkt gelangt bin wie Kafka.
Letzteres ist nicht unmöglich. Zum Beispiel finden sich in verschiedenen Kulturen mystische Strömungen und sie sind zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt. Es scheint mir unwahrscheinlich, dass sie alle voneinander wussten.
Ich kann übrigens den NZZ-Artikel nicht lesen, für mich ist er hinter einer Bezahlschranke verborgen.
Der Dschungelbuch-Bezug ist nur stilitisch, nicht inhaltlich, oder doch nur schwach inhaltlich. Der Rhythmus des Titels ist an «Rikki-Tikki-Tavi» angelehnt. Im Dschungelbuch sind die meisten Tiere in Anlehnung an die Namen dieser Tiere in Hindi benannt. Shika ist das japanische Wort für die Rehart, die man im Nara-Park findet.
«Ich kann übrigens den NZZ-Artikel nicht lesen…»
Ausgehend vom Kafka-Zitat geht’s da um «Serendipity». Aehm’…Auszug:
«Das Sichverlieben und der kreative Einfall sind quasi Geschwister. Sie sind eine Art göttlicher Infekt, den man sich am ehesten durch Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts einfängt.»
«Shika ist das japanische Wort für die Rehart»
Yo, das hatte ich geahnt und danach bei Google nachgeschlagen.
Ist das eigentlich ein ganz aktuelles Foto von Shika? (Das guckt so suess 😉 )
«Ist das eigentlich ein ganz aktuelles Foto von Shika?»
Ja, ich habe ein wenig gemogelt. Nachdem ich am Freitag Werbung für «Nara in 3 Stunden» gemacht hatte, war am Samstagvormittag noich Zeit vor der Fahrt zum Flughafen. Da ich die Touristen und die Rehe im Nara-Park noch nicht ausreichend besichtigt hatte, habe ich das nachgeholt.
Diese Shika ist eine geniale Strategin. Zwischen den beiden Laternen (die Laternenköpfe habe ich allerdings abgeschnitten) ist sie ein so offensichtliches Fotomotiv, dass sie vermutlich das meistfotografierte Reh im Nara-Park ist.
Und sie stand da nicht zufällig. Fotografiert habe ich sie, als ich zum Kasugataisha-Schrein ging. Dann habe ich den besichtigt und als ich auf dem Rückweg wieder dort vorbeikam, stand sie immer noch zwischen den beiden Laternen.
«Ja, ich habe ein wenig gemogelt.»
Genau das hatte ich mich gefragt, weil sonst das huebsche Foto auch bei Komoot zu sehen gewesen waere.
Richtig, ist eine Dame. Andernfalls haette man Hoerner gesehen. Darauf war ich nicht gekommen und hatte deshalb das deutsche Neutrum (Reh) gewaehlt.
Schade, dass man Shika (ich nenne sie mal ganz persoenl. so) nicht mit Ihrer Geschichte konfrontieren kann, weil sie nur ein Tier ist. Dann haette sie vielleicht gelaechelt ueber diese klugen Worte, die Sie ihr in den Mund gelegt haben.
Ein paar Herren liefen auch herum, aber nur junge (sieht man am kleinen, noch samtigen Geweih).
Freut mich 😉