In memoriam Alan Booth Nur ein einziges Buch von Alan Booth hat eine gewisse Bekanntheit erreicht. «The Roads to Sata» beschreiben seine Langstreckenwanderung vom nördlichsten zum südlichsten Kap Japans. Es ist die beste Reisebeschreibung unter sehr vielen, die ich bisher gelesen habe. Für diesen Beitrag habe ich den Titel von Booth geliehen.
«I have always depended on the kindness of strangers.»
Tennessee Williams
Zum Heiligen Berg von Orta
Die Schweizer Bahn fährt bis Domodossola in Italien und tut so, als sei das eine nationale Stecke. Das erspart mir eine internationale Fahrradreservierung, deren Beschaffung erstaunlich umständlich ist. Es erspart mir auch die Fahrt über den Simplon-Pass. Meine erste Simplon-Überquerung mit dem Rad hatten mir enge Galerien und dröhnende Trucks verleidet.
An diesem 10. Juni ist es am Mittag in Domodossola noch nicht heiß. Hier und jetzt beginnt meine zweiwöchige Radtour zur Côte d’Azur, in einem Autostau vor dem Bahnhof. Ich fitze mich aus der kleinen Stadt heraus und erreiche, wie von Komoot versprochen, den Radweg am Fluss Toce. Stille. Nur ab und zu ein anderer Radfahrer, ein Jogger oder eine Frau, die ihren Hund ausführt. An einer Herde von Schafen und Ziegen schiebe ich mein Rad vorbei. Die jüngsten Zicklein laufen an der Spitze.
Der Radweg im Ossola-Tal umgeht die Läden und Restaurants, in denen ich mich verköstigen könnte. Ich erreiche Gravellona, wo die Toce in den Lago Maggiore fließt. Der Radweg weiß nicht mehr weiter und hört auf. In einem Supermarkt an der Straße bekomme ich ein Panino und Mangosaft und so gestärkt strengt der Anstieg nach Omegna kaum an. Oben angekommen treffe ich auf den Orta-See. Von hier sind es nur noch sieben flache Kilometer bis nach Pettenasco, wo die heutige Etappe nach 54 Kilometern endet. Aus einem offenen Fenster des Hotels Giardinetto tönt der Beatles-Song «I want to hold your hand». Ich bin angekommen.
Die Rezeption hat ein schönes ZImmer für mich. Sie hat auch noch einen Tisch auf der Seeterrasse zum Abendessen. Weil bis dahin ist noch viel Zeit ist, laufe ich Richtung Süden die Strandpromenade entlang, auf die Pettenasco stolz ist, und dann weiter bis Orta. Vor Orta ragt ein Felsvorsprung in den See, der als heiliger Ort gilt. Der Aufstieg verläuft durch einen schönen Wald, der den ganzen Sacro Monte di Orta bedeckt. Die zwanzig Kapellen nahe der Kuppe haben Kapuzinermönche angelegt. Sie müssen ein Faible für Orte mit schönem Ausblick gehabt haben, die ein wenig, aber nicht zu sehr abgelegen sind. Eine Hochzeitsgesellschaft teilt diesen Geschmack
Oben auf dem Berg finde ich den Anfang eines Religionswegs, der den Heiligen Berg mit Orta San Giulio an der Spitze der Halbinsel verbindet. Wie die meisten von Touristen überlaufenen Orte ist auch dieser schön. An der Piazza befindet sich eine Schiffsanlegestelle mit Blick auf eine kleine Insel, die völlig von einem Kloster eingenommen ist. Ich nehme zurück den schmalen Strandweg am Nordufer der Halbinsel und genieße den Blick über den See auf die Berge. Die Touristen nehmen stattdessen den Bus.
Am Abend feiert die Hochzeitsgesellschaft laut in meinem Hotel. Ich werde wohl schwer einschlafen können. Dann geschieht das Unerwartete, schon gar in Italien. Um 23 Uhr wird Ruhe.
Der Falke und der Fuchs
Das Aosta-Tal werde ich heute noch nicht erreichen, aber fast. Ich folge mit dem Rad meinem gestrigen Weg nach Orta. Dort empfiehlt Komoot eine Nebenstraße, die sich als nahezu autofrei erweist, bald aber auch als steil. Ab einer gewissen Steigung bestimmt nicht mehr der Radfahrer die Belastung, sondern der Berg. Ich muss im niedrigsten Gang wenigstens so schnell treten, dass ich nicht vom Rad falle und nähere mich meiner Leistungsgrenze. Am Abend wird meine Sportuhr argumentieren, dass mein Puls nicht oberhalb der maximalen Pulsrate liegen kann. Ich werde nachgeben und in den Settings meinen Maximalpuls erhöhen. Vorerst bin ich aber noch in dem knackigen Anstieg. Kurzzeitig wird es flacher. Vor mir liegen die letzten hundert steilen Meter. Oben steht ein Stopschild und daneben rasten zwei Mountain-Biker. Falls ich bis dort durchkomme, wird sich die Frage stellen, ob ich gefahrlos absteigen kann. Ich vermeide diese Frage, indem ich schon im Flachstück absteige und den Rest schiebe. Oben stehen noch immer die beiden Mountainbiker. «Ganz schön steil, was?» fragt der Eine.
Es geht nun erst einmal bergab. Ein junger Hirsch wechselt knapp vor mir über die Straße. Noch ist es im Schatten der Bäume kühl, doch in Gozzano verlässt die Straße den Wald. Sie wird ihn auf den nächsten siebzig Kilometern nicht wieder erreichen. Der Himmel ist blau. Es wird ein heißer Tag.
Bis Cossato geht es durch malerische Bergdörfer und an ansehnlichen Villen vorbei. Meine Trinkflaschen sind jetzt leer. Ein riesiger Supermarkt taucht bequem auf der rechten Straßenseite auf. Ich kaufe Getränke nach meinem Durst ein und dazu noch zwei Panini. Eines landet im Magen, das andere in der Seitentasche. Auch eine Flasche Pampelmusenlimonade muss in die Seitentasche. Mein Durstgefühl beim Einkaufen war größer als das Fassungsvermögen meines Magens und meiner beiden Trinkflaschen.
Die alte Innenstadt von Biella passiere ich ohne abzusteigen und verpasse in Mongrando einen Abzweig, den mir laut Komoot Autoverkehr erspart hätte. Stattdessen biege ich 200 Meter weiter in die Via Communale per Donato ein. Es stellt sich schnell heraus, dass dort auch keine Autos fahren. Nach einer respektabel steilen Rampe wird es wieder etwas flacher. Der Anstieg zieht sich. Es werden mehr als 500 Höhenmeter sein. Ehe ich den Scheitelpunkt erreiche, kündigt sich ein Hungerast an. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich sofort absteigen und das zweite Panino essen mus. Die Anderthalb-Liter-Flasche Pampelmusenlimonade trinkt sich jetzt einfach so weg. Auf dem Handy schaue ich nach, wie weit es noch bis oben ist. Kein Netz.
Der höchste Punkt heißt Croce Serra. Ihm folgt eine schattige, kurvenreiche, kurzweilige Abfahrt. Am tiefsten Punkt in Constanza bin ich bei KIlometer 98. Von hier sind es nur noch zwei Kilometer bei 10% Steigung zu dem Hotel, in dem ich gebucht habe. Es heißt «Il Falco E la Volpe» (Der Falke und der Fuchs), muss einen schönem Ausblick haben und ein wenig, aber nicht zu sehr abgelegen sein. Ich kämpfe etwas mit dem Anstieg. Na ja, gleich vorbei. Da ist schon der Vorplatz des Hotels und der Ausblick lässt wirklich nichts zu wünschen übrig. Das Hotel ist geschlossen.
An der Eingangstür hängt ein Zettel mit der gleichen Handy-Nummer, die ich auch von der Buchungsseite habe. Ich rufe an. Die Handy-Nummer ist tot. Ich könnte mich vertippt haben und wähle erneut. Tot. Ein Blick ins Fenster zeigt, dass das Hotel nach der Wintersaison noch nicht wieder geöffnet hat.
Ich erinnere mich an die Tourplanung. In der Umgebung von Settimo Vittone gibt es nicht viele Unterkünfte. Die Buchungsseite findet dennoch ein Bed & Breakfast in Cesnola, nur ein paar Kilometer Abfahrt entfernt. Dort empfängt mich der Sohn des Hauses, läuft zu Mutter, die telefoniert dem Vater und der checkt mich ein. Er ist Ingenieur in der italienischen Niederlassung einer deutschen Firma und spricht gut Englisch. Nebenbei ist er Skilehrer und der Sohn fährt Ski als Leistungssportler. Der Falke und der Fuchs können mir gestohlen bleiben. Das Bed & Breakfast hat eine Taverne. Für mich kocht die Taverne auch zu Abend.
Ich schreibe dem «Il Falco E la Volpe» ein korrektes, aber nicht freundliches E-Mail, in dem ich die Erstattung meiner Vorauszahlung fordere. Zwischen dem Duschen und dem Abendessen ruft die tote Handynummer zurück. Ich bekomme keine Entschuldigung, sondern eine Lüge aufgetischt. Der Eigentümer sei nur eben im Restaurant ein paar hundert Meter weiter gewesen. Warum das Handy nicht gegangen sei, wisse er auch nicht. Ich weise ihn darauf hin, dass sein Hotel nicht nur mal kurz, sondern ganz geschlossen sei. Ja schon, sagt er, aber sie hätten es für mich geöffnet. Von einem Falken hätte ich mehr Integrität erwartet. Dort regiert offenbar der Fuchs. Herr Fuchs verspricht immerhin die Rückzahlung. Dieses Versprechen wird er auch halten.
Unter einem Blogbeitrag hatte ich mich für meine Radtour abgemeldet. Jemand mutmaßt dort, ich hätte gerade ein «Völlegefühl nach Schweinshaxe und Pommes, anschließend 3 Stück Buttercremetorte.» Was ich an diesem Abend in der Taverne tatsächlich bekomme: Vitello tonnato, Bruschetta mit Anchovis und Petersiliensoße, Ravioli mit Salbei und Butter, Brassato mit Zwiebelkartoffeln und dazu Rotwein. Und zum Schluss einen guten lokalen Grappa. Meine Sportuhr meldet 8 Stunden 37 Minuten Fahrzeit, 107 Kilometer, 1715 Höhenmeter Anstieg, 4989 Kilokalorien. Sie erhebt keinen Einwand gegen ein reichhaltiges Abendessen.
Skiort im Juni
Das Aosta-Tal liegt südlich der Walliser Alpen und seine nördlichen Seitentäler enden an der Bergkette, auf der die Grenze zur Schweiz verläuft. Das italienische Champoluc liegt unterhalb des Breithorns (4164 m), des Castor (4228 m) und des Pollux (4092 m). Dort will ich heute hin. Die Talstraße verläuft bei Settimo Vittone auf 330 Metern Höhe. Die Tour wird aber viel einfacher als gestern sein, nur halb so viele Kilometer und insgesamt nur 1420 Höhenmeter bergauf. Champoluc ist nur nur zehn Kilometer von der Bergkette entfernt. Es muss eine eindrucksvolle Kulisse haben.
In der Nacht hat sich die Luft schön abgekühlt.Kurz hinter der Grenze zwischen dem Piemont und dem autonomen Aosta-Tal leitet mich Komoot in Carema zum ersten Mal weg von der befahrenen Provinzstraße SS 26, verweist mich Donnas wieder auf sie und erlöst mich in Hône endgültig von ihr. Von dort aus bringt mich ein ruhiger und fast leerer Radweg bis Issogne. Dort kreuze ich den Fluss Dora Baltea, durchfahre Verrés und befinde mich im Anstieg nach Champoluc. Jetzt geht es 27 Kilometer bergauf, erst steiler, dann mit wechselnder Steigung und gegen Ende ist es fast eine Hochebene. Derartige Anstiege fahren sich angenehm.
Das Steilstück am Anfang strengt jedoch an. Inzwischen ist es warm und die Sonne hat heute viel Kraft. Meine Trinkflaschen leeren sich schnell. Dafür sehe ich das Castello di Verrès erst von vorn, dann von der Seite und schließlich von hinten. Ich habe viel Zeit zum Schauen, denn schnell bin ich bei 7 bis 9% Steigung nicht. Bald treffe ich auf einige schöne Haarnadelkurven und schattigen Wald. In Challand Saint Anselme findet sich ein kleiner Lebensmitteladen. Panino gibt es hier nicht. Hunger habe ich auch noch nicht, aber ein Packung Gebäck mit Feigenfüllung und eine Flasche Pampelmusenlimonade landen in der Seitentasche. Ich trinke mich satt, fülle noch die Trinkflaschen auf und dann geht es weiter.
Ich bin jetzt schon auf über 1000 Metern Höhe. Hier ist es deutlich kühler. Es wird auch flacher, meist 2 bis 5% Steigung, mal eine kurze 10%-Rampe, aber insgesamt keine Herausforderung mehr. Wie immer auf solchen Strecken dünnt der Verkehr nach oben immer mehr aus und die Landschaft wird immer schöner. Kurz nach Extrepiéraz kommt die letzte Rampe und dann die Hochebene. Blumenwiesen an der leeren Straße, Bergwald im Hintergrund. Deshalb fährt man mit dem Rad in die Berge.
Ich komme viel zu früh in Champoluc an. Ich habe weniger als viereinhalb Stunden gebraucht und Check-In ist im Hotel De Champoluc erst ab 15 Uhr. Das Hotel hat eine Veranda, auf der mein Rad Platz findet. Dass hier jemand etwas aus den Seitentaschen klaut, ist nicht zu erwarten. Das Bergdorf hat, nun ja, geschlossen. Ich bin nicht überrascht. Champoluc ist nicht der erste Skiort, den ich auf einer Juni-Radtour besuche. Die Bilder gleichen sich. Ein paar Wanderer sind da, die es ruhig mögen und nicht zu Hochtouren neigen. Es gibt mehr Bauarbeiter als Touristen. In den wenigen Wochen zwischen der Skisaison und der Sommersaison muss alles erneuert werden, was der Erneuerung bedarf.
Ich finde Wanderwegweiser. Auf dem Wanderweg sehe ich mit meinen gepolsterten Fahrradhosen und dem Fahrradtrikot vermutlich etwas lächerlich aus, aber mir begegnet auch fast niemand. Einem Hund bin ich bergauf zu langsam. Frauchen entschuldigt sich für den aufdringlichen Hund, der ganz friedlich und überhaupt nicht aufdringlich ist. Sie tut es auf Englisch. Frauchen ist bergauf auch schneller als ich. Der Steinbock auf der Rückseite meines Trikots hilft da auch nicht.
Oben liegt Mascognaz, ein Walserdorf. Die Walserin, die mir entgegenkommt, ist vielleicht dreizehn Jahre alt, hat ein braunes Gesicht, afrikanisch gelocktes Haar und sehr gute Laune. Mascognaz besteht aus einer Handvoll Häuser, die trutzig eng zusammengebaut sind. Auf der anderen Bachseite gibt es sogar ein Vier-Sterne-Hotel, mit schönem Ausblick und abgelegen, aber nicht zu sehr. Nur ist es im Juni geschlossen.
Vier Sterne hat das Hotel De Champoluc nicht, aber alles, was ich brauche und eine gute Küche. Das Hauptgericht kommt und meine Fleischportion sieht doppelt so groß aus, wie sie sein sollte. Als am Nachbartisch ein Bauarbeiter das gleiche Gericht bekommt, wird mir klar, dass sie doppelt so groß ist.
Der Rücken des Matterhorns
Das Matterhorn ist ein Schweizer Symbol, vielleicht sogar das bekannteste Logo der Schweiz. Wenige wissen, dass es auf der Grenze zu Italien liegt. Dort heißt es nicht Matterhorn, sondern Cervino. Der italienische Talort heißt Cervinia. Dort will ich heute hin.
Das Profil der Etappe ist einfach zu beschreiben. Es geht 29 Kilometer bergab, 13 Kilometer durch das Tal der Dora Baltea und dann wieder 29 Kilometer bergauf. Cervinia liegt auf reichlich 2000 Meter.
Für die Abfahrt aus Champoluc ziehe ich Radhose, Trikot, lange Hose, Wintertrikot, Regenhose, Windjacke, Helmkappe und Handschuhe an. Ich habe keine Lust zu frieren. Komoot würde mich ab Brusson gern über den Col de Joux schicken, nur ist der gerade gesperrt. So fahre ich zurück ins Tal bis Verrés, wo ich die warmen Sachen ablege und etwas trinke.
Der Anstieg ab Châtillon ist fast ein Déjà-vu. Es ist warm, die Steigung liegt zwischen 6 und 8%. Die Burg liegt diesmal allerdings auf der anderen Seite des Aosta-Tals und gerät nur in den wenigen Kehren in den Blick. Wieder folgt dem ersten Steilstück eine Erholungsphase, in der es nur noch mäßig bergauf geht. Dann aber wird es wieder steil. Und es fängt an zu regnen, zum ersten und letzten Mal auf dieser Tour.
Es ist nicht mehr sehr warm, aber es ist auch nicht kalt. An dieser Steigung produziert mein Körper viel Wärme. Unter der Regenjacke würde ich stark schwitzen. Das ist unangenehmer als der leichte Regen und so fahre in dem kurzen Zeug weiter. Valtournenche liegt eindrucksvoll oberhalb einer Steilstufe. Das Matterhorn liegt heute in den Wolken und sie werden es bis zum Abend nicht freigeben. Am Lago Blu, anderthalb Kilometer vor Cervinia, mache ich einen kurzen Halt. Der kleine See ist auch bei Regen attraktiv. Wie auf quaeldich.de empfohlen, umfahre ich den Tunnel vor dem Ortseingang. Am Anfang der Fußgängerzone steige ich vom Rad und dann ziehe mich sehr schnell warm an.
Cervinia ist fast so leer wie Champoluc. Ich suche und finde die Red Fox Lodge, in der ich reserviert habe. Obwohl ich noch zu früh bin, ist dort schon jemand und er ist sehr freundlich. Die Lodge ist neu, außen Holz, innen behindertengerecht, einschließlich des Bads. Außer mir hat dort niemand reserviert. Später werden noch zwei belgische Motorradfahrer auftauchen. Auf dem Fernseher finde ich Radio Freccia, Rock, meistens hart, gerade das Richtige für mich. Ich dusche nicht kalt und ich dusche nicht lau. Ich dusche richtig heiß.
Der Regen hat aufgehört. Kalt ist es immer noch, aber warme Sachen habe ich dabei. Eine Wanderung lohnt heute nicht. Es wird ein erweiterter Ortsrundgang, der einige Anhöhen mitnimmt. Ein offenes Lebensmittelgeschäft gibt es in Cervinia diesen Juni nicht, aber eine Bäckerei. Die hat etwas gut aussehendes mit Pistaziencreme. Nach einer Bergetappe schmeckt jedes Gebäckstück gut. Dieses jedoch schmeckt himmlisch. Ich sage es dem Bäcker und er freut sich.
An der Bushaltestelle hängt eine Liste mit offenen Hotels (zwei) und Restaurants (drei). Die Bäckerei ist schon eingerechnet, weil sie Pizzastücke verkauft. Das Restaurant des Golfklubs erscheint mir zu mondän. Le Bistrot de l› Abbe sieht urig aus. Hier ist es auch voller als bei den Golfern. Das Essen ist herzhaft und nahrhaft. An ein Dessert ist nach dieser Portion nicht zu denken. Der Wirt bringt einen Grappa: «Geht auf’s Haus.» Und dann noch einen: «Bleiben Sie doch noch etwas.»
Talschluss
Und wo ist nun das Matterhorn? Tschechow hat einmal geschrieben, wenn man ein Gewehr auf die Bühne stelle, müsse es hinterher auch losgehen. Das Matterhorn muss also erscheinen und tut es auch, am Morgen des vierten Tages. Dadurch klärt sich auch, warum ich gerade dieses Zimmer bekommen habe, als ich eincheckte und noch der vermutet einzige Gast für diese Nacht war. Es ist das Zimmer mit dem besten Matterhorn-Blick.
Die Regenhose lasse ich für die Abfahrt weg, die Handschuhe nicht. Komoot sagte 95 Kilometer vorher, 1890 Höhenmeter bergab und nur 1140 Höhenmeter bergauf. Es wird auf reichlich 5 Stunden im Sattel hinauslaufen. Kein Vergleich mit dem zweiten Tag. «Kleine Fische» hätte mein Mathelehrer Paschke gesagt.
In Châtillon entledige ich mich auf der Piazza der warmen Sachen. Es ist auch höchste Zeit. Komoot hat die kluge Idee, mir die Galleria Breil auf der befahrenen Provinzstraße SS 26 zu ersparen, indem es mich über die Strada Communale Cret de Breil leitet. Die italienische Polizei denkt anders darüber. Die Strada Communale querte früher kurz hinter der Galerie in spitzem Winkel die SS 26. Das war gefährlicher als die Polizei erlaubt. Sie hat die Straße kurz vor der Einmündung mit massiven Barrieren blockiert, an denen auch ein italienischer Vespa-Fahrer scheitert, den sonst nie eine Verkehrsregel interessiert. Sie sind auch mit einem Fahhrad nicht zu umgehen. Eine Frau erklärt mir auf italienisch einen Schleichweg, auf dem ich zwar schieben muss, aber die Galerie umgehen kann. Ich verstehe kein Italienisch, aber es klappt. Bis Moulin geht es nun notgedrungen auf der SS 26 weiter. Dort habe ich ein Déjà-vu an Hône. Eine Brücke über die Dora Baltea führt mich auf einen stillen Radweg auf der anderen Flusseite.
Es ist einer dieser Wege, die sich Radfahrer, Jogger, Skater und Spaziergänger mit Hunden teilen. Je näher ich Aosta komme, um so mehr ist er bevölkert. Der Weg umgeht die Supermärkten und Restaurants von Aosta konsequent, kreuzt nahe am Ortsende Fluss und Autobahn und bald darauf auch die SS 26. In Sarre umgeht er das Ortszentrum, weil sich dort ein Lebenmittellladen befinden könnte und dann wird es steil. Komoot behauptet nicht mehr als 13% und meine Gangschaltung kommt eigentlich erst oberhalb von 16% in Verlegenheit. Vielleicht ist es die Hitze. Ich steige in der Mitte der 150-Höhenmeter-Rampe ab und schiebe den Rest. Vom Kinnriemen meines Helms tropft Schweiß. Oben befindet sich ein Kreisverkehr, den ich im Verdacht habe, dass er nie Verkehr hat. Dann geht es sanft bergab, bis ich wieder auf die SS 26 treffe. Die restlichen 30 Kilometer wird es stetig bergauf gehen. Bis auf eine kurze Rampe vor Palleusieux ist es eine Steigung zum Rollen.
Langsam werde ich hungrig. Die SS 26 umgeht Villeneuve, aber sie kreuzt Arvier und Arvier hat einen Lebensmittelladen. Es ist 12:37 Uhr. In Italien gibt es nur ein einziges Gesetz, das landesweit strikt eingehalten wird. Es besagt, dass ein kleiner Lebensmittelladen eine mehrstündige Siesta halten muss. Im Aostatal beginnt sie um 12:30 Uhr. Für Supermärkte gilt das Gesetz allerdings nicht und im 12 Kilometer entfernten Morgex unterhält die Kette Familia ein veritables Warenparadies. Im Eingangsbereich steht sogar eine Bank. Zur Abwechslung esse ich statt Panini ein Wrap und danach einen Joghurt. Der Getränkeüberschuss landet wieder in der Seitentasche. Es fährt sich gleich viel besser.
Der Verkehr nimmt ab und die Schönheit der Landschaft zu. Ich fahre auf die Kette des Mont Blanc zu. Die Majestät wird von niederen Bergen im Vordergrung verdeckt, aber ihr Gefolge ist beeindruckend genug. In Pré-Saint-Didier lasse ich den Abzweig zum Col du Petit Saint Bernard links liegen, kreuze ein letztes Mal die Dora Baltea und befinde mich schon im Schlussanstieg nach Courmayeur. Am Ortseingang schluckt der Mont-Blanc-Tunnel fast alle restlichen Autos. Mit dem Fahrrad geht es hier nicht mehr sehr viel weiter. Ich koste es noch fast völlig aus. Die Übernachtung habe ich in der Maison La Saxe gebucht, einen Kilometer vor Entreves. Wer von Entreves weiter nach Nordwesten möchte und kein Auto dabei hat, dem bleibt nur die Seilbahn.
In den engen Gassen von La Saxe muss ich nach der Unterkunft suchen. Mich empfängt ein lebensgroßer Stoffeisbär und bald auch der Besitzer, der mich zu der Tiefgarage begleitet, in der ich mein Rad unterstellen kann. Die engen Gassen, sagt er, seien früher alle überdacht gewesen. Jetzt ist das nur noch stellenweise der Fall, weil es nicht mehr nötig ist, seit die Winter auch hier nachgelassen haben.
Zum Abendessen laufe ich ins Ortszentrum. Die guten Restaurants öffnen spät. Vor einem Bistrot sitzen junge Italiener bei Bier, Panini oder kalten Platten. Niemand hat ein warmes Gericht, obwohl eine mit Kreide beschriebene Tafel solche anpreist. Ich bestelle Lasagne. Die jungen Italiener haben Recht. Aber das Bier ist gut.
Nach dem Essen mache ich noch einen Spaziergang nach Entreves. Der Wanderweg passiert einen Klettergarten, in dem zwei junge Frauen trainieren. Als ich auf dem Rückweg wieder vorbeikomme, sind sie gegangen und ich kann mir den Klettergarten anschauen, ohne aufdringlich zu wirken. Die schwierigsten Routen haben Überhänge, die ich nicht für kletterbar gehalten hätte. Wer hier übt, ist kein Anfänger mehr.
Ich lasse den Tag mit Radio Freccia ausklingen. Morgen werde ich das Aosta-Tal in Richtung Savoyen verlassen.
10 Antworten zu “Die Straßen nach Courmayeur”
Herzlichen Dank! Ich bin geruehrt.
Fortsetzung folgt?
«Fortsetzung folgt?»
Ja, es ist nur eine Anzahlung, reichlich ein Drittel. Ich weiß nur noch nicht, wann es weitergeht.
Es war wirklich wichtig, dass sich das erst einmal setzt. Ich habe fast keine Notizen gemacht (bis auf das Abendessen in Cesnola), nur meine Komoot- und Sport-Uhr-Aufzeichnungen habe ich benutzt und natürlich eine Auswahl der (wenigen) Fotos, die ich gemacht habe. Das meiste ist also das, was nach vier Monaten noch in Erinnerung geblieben ist.
«Ja, es ist nur eine Anzahlung…»
Dachte schon, ich und @Albatros muessen da erstmal eine Anzahlung leisten…
Ja, sicher lassen Sie sich Zeit. Ich freue mich, wann immer die kommt. Reisebeschreibungen koennen Sie jedenfalls auch bestens. (Nichts, was Sie nicht koennen.)
«Nichts, was Sie nicht koennen.»
Oh doch, sehr viel. Wie Sie nachlesen können, ist Überhänge klettern eines davon.
Nun gut, das konnte sogar mein Freund mal vor Ewigkeiten. (z.B. hier: https://www.visitkras.info/de/einsturztal-risnik).
Aber, das ist ja nun wirklich nicht wichtig 😉
Was denkt sich eigentlich der Kerl?
Bei «Ueberfluss»? Keinen Sinn fuer wirklich schoene Dinge. Nichts passt besser zu «Frieden» als diese Reisebeschreibung. (wenigstens Teil 1)
Es ist ja schon der Ueberfluss, der so etwas möglich macht. Mein Rad hat 30 Gänge.
Mag ja sein, fahren Sie eben naechstes Jahr mit ’nem Dreirad – aber ueberfluessig ist das nicht. Bleiben Sie fit und leistungsfaehig und traegt zudem zum Frieden bei.
[…] (Fortsetzung von: Die Straßen nach Courmayeur) […]
[…] von Die Straßen nach Courmayeur und Durch das hohe […]