Radreise Abseits der Küsten und der Lavendelfelder ist die Provence sehr ruhig.
(Forsetzung von Die Straßen nach Courmayeur und Durch das hohe Savoyen)
Napoléon zum Zweiten
Südlich des Col d’Izoard liegen noch zwei monumentale Alpenpässe. Ich werde sie beide umfahren. Trotzdem stehen heute und morgen noch zwei Pässe mit über 2000 Metern Höhe an. Der erste der beiden ist die Nordauffahrt des Col de Vars, die im kommenden Jahr wieder einmal Teil der Tour de France sein wird. Die Profis müssen 2024 auf der 19. Etappe nach dem Col de Vars noch die Cime de la Bonette und die Auffahrt nach Isola 2000 bewältigen. Mir genügt mir heute dieser eine Pass. Auch die Temperaturen werden mir heute noch nicht zu schaffen machen. Die heißen Alpes-Maritimes erreiche ich erst morgen.
Kalt ist es allerdings auch nicht. Zum ersten Mal stoppe ich schon nach anderthalb Kilometern in Arvieux, wo ich meine Trinkflaschen halb mit Grapefruit-Saft und halb mit Wasser fülle. Vom Brunnen fällt mein Blick auf die Konditorei, die so früh noch geschlossen ist. Fünf Kilometer weiter erreiche ich die D 947. Wenn ich hier links abbiegen würde, könnte ich heute den 2744 Meter hohen Col Agnel fahren, an dessen Bergflanken bei der Tour 2014 Eis glänzte. Heute nicht.
Das Guiltal ist noch leer. Nach einer Stunde erreiche ich in Guillestre auf der Brücke über den Le Rif Bel den tiefsten Punkt der heutigen Etappe. Im folgenden Anstieg ist es sonnig und in den Serpentinen wechselt ständig die Blickrichtung. Meine Trinkflaschen sind noch gut gefüllt, als ich einen Bach passiere, dessen Name nicht zum Trinken einlädt.
Kurz danach erreiche ich das Hochtal, in dem der Skiort Vars liegt. Am Taleingang gibt es einen Aussichtspunkt. Ich steige ab, trinke etwas und mache das empfohlene Foto.
Vars hat einen in frisches Holz gefassten Trinkwasserbrunnen. Von hier werde ich noch eine Stunde bis zum Pass brauchen. Etwa einhundert Höhenmeter darunter hat Napoléon an einem See eine Schutzhütte bauen lassen. Die Abfahrt ist steiler als die Auffahrt und nach knapp 5 1/2 Stunden Fahrzeit bin ich schon in meinem Zielort Barcelonnette.
Zum Einchecken ist es noch viel zu früh und es ist nun doch heiß geworden. In Barcelonnette herrscht Siesta-Ruhe. Ich finde den Supermarkt, kaufe etwas zu trinken und zu essen und entdecke eine leere Parkbank im Schatten mit Bergblick. Siesta ist gar keine schlechte Idee. Um 16 Uhr checke ich ein. Das Spa Azteca ist eines der teuersten Hotels dieser Reise. Ein Restaurant betreibt es nicht, die Dame am Check-In macht auf desinteressierte Angestellte und das Schloss an meiner Zimmertür klemmt. Zum Abendessen gehe ich ins Le Cheval Blanc. Das weiße Pferd ist freundlich, kann kochen und überrascht mich mit einer lokalen Pasta-Spezialität.
Abseits des Spektakulären
Was macht ein Radfahrer normalerweise in Barcelonnette oder im nahegelegenen Jausier? Er bereitet sich auf die Etappe über den Col de la Bonette vor. Mit 2715 Metern ist der Bonette der vierthöchste Alpenpass und mit einer Ringstraße um den Gipfel versucht er, sich den Titel des höchsten Passes zu erschleichen. Ich bin ihn und seine Ringstraße auf der Tour von Avignon nach Cuneo 2015 gefahren. Diesmal lasse ich ihn links liegen, um den Col de la Cayolle zu fahren. Das hatte ich schon 2012 getan, weil der Cayolle auf der Route des Grandes Alpes liegt, der ich damals gefolgt bin. Der Mann an der Rezeption des Hotels hatte mich morgens, wie ich weiterfahren würde. Als ich Cayolle sagte, blickte er anerkennend und meinte, der sei auch landschaftlich schöner. Den Bonette fährt man aus sportlichen Gründen oder zum Angeben. Den Cayolle fährt man zum Genießen.
In den ersten zehn Minuten der Etappe tut sich nicht viel. Dann klebt die schmale Straße plötzlich am Rand der Schlucht des Bachelard. Vielleicht ist das doch ein spektakulärer Pass. Die Straße bleibt sehr schmal, Autos kommen sehr selten vobei und die Motorradfahrer sind heute alle am Col de la Bonette. Die sportliche Herausforderung hält sich in Grenzen. Für die 1190 Höhenmeter bis zum Pass stehen 30 Kilometer zur Verfügung. Bis auf den Schlussanstieg ist das ein Pass zum Rollen. Die Straßenbenutzer sind hier nur Gäste.
Dieses Tal gehört den Murmeltieren. Heute machen sie sich allerdings rar. Selbst die Radfahrer sind knapp. An einer der Brücken über den Bachelard steht ein schickes Cabrio mit einem schicken Pärchen darin. Ich fotografiere den Bachelard.
Kurz vor der Steilstufe verschwinden die Lärchen. Hier gibt es nur noch Wiesen. Rechts erhebt sich der 3053 Meter hohe Mont Pelat. Links erhebt sich die 2709 Meter hohe Cime de’l Eschillon. Am Pass sind dann auch andere Radfahrer, die von Süden gekommen sein müssen.
Bevor ich nach einem Picknick wieder losfahre, bittet mich ein französisches Rennradfahrerpaar, ein Foto von ihnen zu machen. Wie alt mögen die Beiden sein? Ende 60, Anfang 70? Sie erzählen mir, dass sie sehr oft hier hinauffahren und jedesmal sei ein Foto Pflicht. Kein so schwieriger Pass, meinen sie, aberder schönste der Alpen. In den letzten zwanzig Jahren bin ich fast alle Alpenpässe gefahren, die über 2000 Meter hoch sind. Sie könnten Recht haben.
Den 30 Kilometern Auffahrt folgen 20 Kilometer Abfahrt. An das Schild, das für die Quelle der Var wirbt, kette ich mein Rad. Ein Stück unterhalb der Straße entspringt ein Bach, dem die Rolle der Var zugewiesen wurde, obwohl der knapp darunter liegende Lac d’Estenc zwei weitere, deutlich längere Zuflüsse hat. Von hier aus geht es nur noch bergab bis Nizza, wo die Var ins Mittelmeer fließt. Allerdings kann man ihr nicht bergab folgen, mit dem Auto nicht, mit dem Rad nicht und zu Fuß nicht. Zwischen Guillaumes und Daluis hat sie sich einen Canyon geschaffen, den sie ganz für sich allein beansprucht. Die Straße verläuft am oberen Rand des Canyons, mit kleineren Zwischenanstiegen. Wenn ich diesen Weg nehme würde, würde mich kein Pass mehr von der Côte d’Azur trennen. Die Route des Grandes Alpes verläuft anders und ich werde ihr folgen.
In der Abfahrt vom Col de la Cayolle wird die Straße bald breiter. Die Var sammelt viel Wasser von den umliegenden Hängen und ist in Entraunes schon ein ansehnlicher Fluss. Kurz vor Guillaumes kann sie sich in einem breiten Tal nicht entscheiden, welchen Verlauf sie genau nehmen soll.
In Guillaumes komme ich wie üblich zu früh zum Einchecken an. Diesmal bin ich sehr viel zu früh. Das Les Terres Rouges 06 öffnet erst um 17 Uhr. So war das schon 2012 so, als ich in diesem Hotel zwei Nächte verbrachte, um einen Tag in der Daluis-Schlucht wandern zu gehen. Auch damals war es so heiß. Der Lebensmittellladen hat schon Siesta. Ich kann zwischen einem Mittagessen in einem Restaurant und einer kleinen Wanderung in der Daluis-Schlucht wählen. Mein Magen erklärt sein Einverständnis mit der Wanderung.
Guillaumes war einmal der Endpunkt einer Schmalspurbahnstrecke. Der Streckenabschnitt Pont-de-Gueydan-Guillaumes wurde vor fast hundert Jahren am 29. Juli 1923 in Betrieb genommen. Dafür waren eine imposante Brücke über die Daluis-Schlucht und einige kleinere Tunnel gebaut worden. Noch vor der Weltwirtschaftskrise erwies sich die neue Bahn als unwirtschaftlich. Der Betrieb wurde schon am 16. Mai 1929 wieder eingestellt. Zum Aussichtspunkt oberhalb der Pont de la Mariée gibt es von Guillaumes aus keinen bequemeren Wanderweg als diese ehemalige Bahnstrecke.
Als ich wieder in Guillaumes bin, hat der Lebensmittelladen seine Siesta beendet. Ich kaufe ein großes Baguette-Sandwich und viele Getränke. Gestärkt schaue ich mir das 600-Einwohner-Dorf an. Zur Burgruine muss ich diesmal nicht hinaufsteigen, denn dort war ich schon 2012. Die Geschichte des Ortes wird auf einigen Tafeln am ehemaligen Waschplatz erklärt. Das Dorf verdankt Gründung und Namen Wilhelm, dem I. von der Provence. Der damals etwa 18-jährige Wilhelm hatte 973 die Provence von den Sarazenern befreit. Weil der Punkt oberhalb der Daluis-Schlucht strategische Bedeutung hatte, gründete er die Siedlung. Ob die Burg auf ihn zurückgeht, ist nicht bekannt. Sie wurde im 13. Jahrhundert erstmals erwähnt.
1760 trat Frankreich Guillaumes an das Haus von Savoyen ab, dem damals große Teile der Provence einschließlich Nizzas gehörten. Die Savoyer schleiften die Burg. In der französischen Revolution fiel Guillaumes zurück an Frankreich und wurde 1796 formell von den Savoyern abgetreten. Bekanntlich wechselte später das Kriegsglück. Guillaumes fiel mit den Pariser Verträgen 1814 und 1815 mit der ganzen Grafschaft Nizza wieder an Savoyen. Dann half Napoléon, der III. dem Savoyer Victor Emmanuelle II. auf den italienischen Königsthron. Im Gegenzug überließ Victor Emmanuell die Grafschaft Nizza 1860 wieder Frankreich, nicht ohne das Volk zu fragen. Die Stimmen beim Referendum wurden so ausgezählt, dass sich eine überwältigende Mehrheit für den Anschluss an Frankreich ergab. Ein Viertel der Bevölkerung von Nizza emigrierte nach Italien. In den ersten freien Wahlen 1871 erhielten die pro-italienischen Listen 26534 der 29428 abgegebenen Stimmen. Guillaumes wurde nie wieder savoyisch, auch 1940 nicht, als die Italiener Menton und Nizza besetzten.
Beim Einchecken ins Les Terres Rouges 06 gibt es eine Überraschung. Die Generation der Betreiber hat gewechselt und die Zimmer sind modernisiert worden. So spartanisch der Duschraum 2012 war, so luxuriös ist das neue Badezimmer. Die neue Generation kocht in ihrem Stil, nicht traditionell. Sie fragen mich beim Check-In, ob mir gefällt, was sie am Abend offerieren werden. Vielleicht ist es eine Höflichkeitsanwort, die ich ihnen gebe. Als das Esssen kommt, mag ich ich es wirklich.
Tag der Musik
Heute ist der 21. Juni. In Frankreich ist das der Tag der Musik. In jedem Dorf, in jeder Stadt wird es heute Abend Musik geben. Ich das auf Radtouren schon mehrfach erlebt. In Erinnerung geblieben sind mir Sault 2015, wo ich nach der Bezwingung des Mont Ventoux am ersten Tag sogar noch ein wenig tanzte und Argelès-sur-Mer 2019, wo am letzten Tag der Pyrenäen-Tour mein Fenster zum Hauptplatz der Stadt hinausging. Heute muss ich mir den musikalischen Abend erst noch verdienen.
Jetzt wird kein Pass mehr auch nur annähernd die 2000-Meter-Linie erreichen. Trotzdem wird das heute eine der anspruchsvollsten Etappen. Indem ich Valberg, den Col de la Couillole und den Col Saint-Martin miteinander verbinde, bringe ich es auf 2210 Höhenmeter Anstieg. Am Col Saint-Martin wird es früher Nachmittag und heiß sein. Ich weiß, dass es im unteren Teil kaum Schatten gibt.
Von Guillaumes nach Valberg gibt es zwei Straßen. Die Ausschilderung empfiehlt dem Radfahrer den Weg über Péone. Bis Péone steigt die Straße im Tal des Tuebi nur leicht an. Dort biegt sie in ein Seitental ab, in dem ich bald zum Trinken und Fotografiere absteige. Es ist 9:30 Uhr und noch kühl. Ich liege gut in der Zeit.
Valberg wird auf quaeldich.de als hässlicher Retortenskiort angekündigt. Die Durchfahrt überrascht mich angenehm. Bis zur Ortsmitte von Beuil geht es nun bergab. Die Baustellenampel am Ortseingang wird keinen Sprint erfordern. Unmittelbar vorher überholt mich ein Pulk belgischer Motorradfahrer. Die junge Frau am Schluss der Gruppe schafft es nicht mehrvor der Rotphase und kommt unmittelbar vor mir zu stehen. Ihre zierliche Figur in der schwarzen Ledermontur kontrastiert mit der schweren Maschine. Auch wenn es bis zum Col de la Couillole nur 225 Höhenmeter sind, wird die Gruppe den Pass wohl schon wieder verlassen haben, ehe ich oben ankomme.
Den Straßenbauern ist es gelungen, sechs Haarnadelkurven in die 225 Höhenmeter Anstieg zum Col de la Couillole zu packen. Dort erreiche ich die Metropolregion Nizza. Sie versichert mir, dass sie ihre Radfahrer beschütze, begrüßt mich und ist stolz auf ihr Azurblau. Tatsächlich mag ich Nizza und das Kunstmuseum daselbst mit den Werken von Niki de Saint-Phalles, deren übergewichtiger Engel in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs schwebt. Ich mag Salade niçoise und die Auswahl an Tapenaden auf dem Markt von NIzza. Das kleinere Menton allerdings, das mag ich noch mehr. Dort habe ich 2012 zum ersten Mal die Côte d’Azur erreicht. Dort habe ich mein Rad an ein blühendes Orangenbäumchen angeschlossen. Dort will ich wieder hin.
Ich verlasse den Pass kurz vor 12 Uhr. und verliere bis ins Tal der Tinée mehr als 1000 Höhenmeter. Hier könnte rechts nach Nizza abzubiegen und mir den Col Saint-Martin in der Nachmittagshitze ersparen. Aber wer wird schon kneifen?
Ich schaffe es immer wieder, den Schweiß aus den Augenwinkeln zu wischen, eher er mir in die Augen läuft. Ein Pulk polnischer Motorradfahrer überholt mich. Am nächsten Aussichtsparkplatz stehen sie, die schwarze Lederkleidung geöffnet oder abgelegt. Ich stoppe kurz und trinke und fahre vor ihnen weiter.
Der Wassergehalt meines Körpers nimmt ab. Der Wassergehalt meiner beiden Trinkflaschen geht gegen Null. Ich bin ein alter Hase. In der rechten Gepäcktasche liegt eine volle Anderthalb-Liter-Flasche Pampelmusenlimonade ohne Kohlensäure. Ehe ich sie angreifen muss, erreiche ich Valdeblore. Valdeblore hat einen Trinkwasserbrunnen und eine schattige Bank. Alte Hasen wissen, wann sie eine Pause brauchen. Ich trinke mich satt und fülle die Trinkflaschen randvoll. Gleich neben dem Brunnen wartet eine Gruppe Kinder auf die Pferdekutsche, die sie gleich abholen wird. Die erste Kutsche hat nicht für alle Platz, aber es gibt keinen Streit.
Am Ortsausgang von Saint-Dalmas, 400 Höhenmeter weiter, braucht der alte Hase noch ein Pause und jetzt braucht er auch die Pampelmusenlimonade. Am Pass ist die Hitze erträglich. Ich bin jetzt sieben Stunden unterwegs. Zwanzig Minuten später stehe ich in St. Martin Vesubie vor der La Bonne Auberge. Es ist nicht zu früh zum Einchecken. Der Chef zeigt mir den Abstellraum für das Rad. Der Chef kann über Radtouren in dieser Gegend fachsimpeln. Er bedauert, dass sein Restaurant heute Ruhetag hat. Ich habe schon einmal in dem schön gelegenen und schmucken St. Martin übernachtet. An Restaurants fehlt es hier nicht.
Die Zeit bis zum Abenessen gibt noch einen Sapziergang her. St. Martin ist an einen Hang gebaut. In den schmalen Pflasterstraßen gibt es Wasserrinnen, die den Bächle in Freiburg im Breisgau ähneln. In Freiburg muss ein Besucher eine Stadttochter heiraten, wenn er versehentlich in ein Bächle tritt. Ich kenne die lokalen Bräuche in St. Martin nicht und sehe mich vor. Auf dem Hauptplatz spilet die Band amerikanische Musik aus den 1970er Jahren. Sie hat Drive. Ich bleibe eine Weile stehen, ehe ich ein Restaurant zum Abendessen suche. Das La Cave zieht mich magisch an. Es öffnet um 19 Uhr und sie schicken mich gleich wieder weg. Die Küche sei noch nicht offen, ich solle in einer Viertelstunde wiederkommen. Seltsame lokale Bräuche, denke ich. Die Zurückweisung genügt nicht, um die Magie zu zerstören. Ich esse trotzdem im La Cave und die Wahl ist richtig.
Route Barrée
La Bonne Auberge serviert knuspriges Baguette, watteweiche Croissants und ein weichgekochtes Ei auf einer Terrasse mit Ausblick. Ich genieße mein Frühstück entspannt. Die letzte Etappe nach Menton ist simpel. Zuerst geht es zum Col de Turini hinauf, einem der sehr seltenen Pässe, auf denen sich drei Straßen treffen. Die Beschreibung auf quaeldich.de ist lakonisch und wirft der Auffahrt vor, mit Ausblicken zu geizen. Sie erweist sich als unfair. Weil der Col de Turini ein Tour-de-France-Pass ist, klärt mich jeden Kilometer ein Schild über die Strecke bis zum Pass, die aktuelle Höhe und die mittlere Steigung auf dem nächsten Kilometer auf. Ein Rollpass ist der Col de Turini nicht, aber überanstrengen werde ich mich hier auch nicht. Bis oben wird es nicht heiß und danach wird nur noch der Col de Castillon ab Sospel anstehen, der nicht mehr als ein Dessert ist. Kurz vor 11:30 Uhr bin am Col de Turini und damit fast schon in Menton. Fast. Die Abfahrt nach Sospel ist gesperrt.
Ich esse etwas Käse, trinke und plane um. So ein Drei-Wege-Pass ist schon praktisch. Ich muss nicht umkehren, sondern kann rechts abbiegen und in Richtung Lucèram abfahren. Auf der D15 ist nicht viel Verkehr und sie fährt sich zwanzig Minuten lang sehr gut. Dann treffe ich auf die nächste Straßensperre.
Das macht jetzt gar nichts. Es ist sowieso praktischer, hier links abzubiegen. Die Route du Col de’l Orme verspricht die besseren Ausblicke. Außerdem kann ich dort in der Abfahrt auf die D 54 zum Col de’l Orme abbiegen. Die D 54 wiederum trifft die D 2204 nach Sospel an ihrem höchsten Punkt. Ab Sospel werde ich dann wieder auf meiner geplanten Strecke sein.
Die Route du Col de’l Orme ist tatsächlich sehenswert. Dort vorn, wo der Pulk Motorradfahrer steht, muss der Abzweig auf die D 54 sein. Die Motorradfahrer wirken etwas unglücklich.
Die D 54 ist eine schöne schmale Straße, nur ist sie ebenfalls gesperrt. Ich fahre weiter nach Lucèram und dann nach L’Escarene. Dort zweigt eine Straße ab, die ich ohne mein Navi nicht in Betracht gezogen hätte. Es geht zwar noch einmal bergauf, länger, teilweise steil und es ist inzwischen auch heiß. Aber auf der Route de’l Escarene ist niemand, nicht einmal andere Radfahrer. Hin und wieder stehen einzelne Häuser am Straßenrand. Provenzalischer Wald und provenzalische Talblicke wechseln einander ab. Seit dem Col de la Cayolle bin ich keine schönere Straße mehr gefahren. Sie macht einen großen Bogen am Talschluss und trifft auf die Route Stratégique de Peille ab. Irgendjemand hat geglaubt, man würde hier aus militärischen Gründen eine befestigte Straße brauchen.
Die Route Stratégique ist schön schattig. Sie führt zum Col des Banquettes. Auf quaeldich.de wird die stolze Route Stratégique als asphaltierte Forststraße bezeichnet. Mit einer Passbeschreibung könnte ich mich auszeichen, denn sie fehlt noch. Hier ist sie: Ab dem Abzweig zwischen der Route de’l Escarene und der Route Stratégique de Peille fährt man im Wald und sieht nichts. Am Pass auf 736 Metern Höhe öffnet sich der Blick auf das Mittelmeer, das nur noch zehn Kilometer Luftlinie entfernt ist. Der Streifen vor der Küste ist deutlich azurblau.
Die Blicke bleiben in der Abfahrt schön. Ich fotografiere auch. Links liegt malerisch Saint-Agnès an einem Bergsporn. Die Fotos werden der Erinnerung nicht standhalten. In der Erinnerung werde ich nicht sehen, dass es dunstig ist, auf den Fotos schon. Es wird immer wärmer. Es duftet nach Provence. Das ist die letzte Abfahrt der Tour. Nur noch rollen. Dann kommt – eine Straßensperre.
Wo «Circulation Alternée» steht, wird ein Fahrrad ja wohl passieren können. Ich fahre um die nächste Kurve. Die Sperre hat italienische Qualität. Sie ist nicht einmal für Fußgänger zu umgehen. Laut Karte liegt die nächste Umfahrungsmöglichkeit 300 Höhenmeter über mir. Komoot kennt einen Fußweg, der die Baustelle möglicherweise umgeht, wenn sie nicht zu lang ist. Auf dem Weg lässt sich ein Rad schieben. Er trifft kurz hinter der Baustelle wieder auf die Straße.
Der Rest ist dann wirklich einfach. Das Ibis Style in Menton bietet im Foyer zur freien Bedienung selbstgemachte Limonade und eine anständige Kaffeemaschine an. Alles enstpricht den Erwatungen an ein Ibis-Hotel. Es ist unpersönlich, etwas steril, aber in seiner Weise perfekt. Als ich den Balkon meines Zimmers sehe, nehme ich das «steril» zurück. Ich kann über die Dächer von Menton schauen und es ist trotzdem ruhig. Auf diesem Balkon werde ich zu Abend essen. Auf dem Weg zum Supermarkt erwischt mich ein Regenschauer – an der Côte d’Azur!
Die Wettervorhersage wiegelt ab. Es soll nun nicht mehr regnen. Ich gehe zum Meer und laufe die Strandpromenade entlang bis zur italienischen Grenze. Rechts von mir strahlt das Azur. Ich laufe ein paar hundert Meter nach Italien hinein. Dann kehre ich um. Links neben mir strahlt das Azur. Schwimmen werde ich erst morgen früh. Ich bin glücklich.
5 Antworten zu “Ins Azur”
Yo – ins Blaue!
Kurzweiliger Bericht, tolle Fotos. Da kommt man gleich in Urlaubsstimmung. Gut gemacht, Sie alter Hase im Rausch 😉
«Ich bin glücklich.»
Das hoert man gern. Hoffentlich immer noch.
Heute gibt es in Zürich eine Wintermärchenlandschaft mit Sonnenschein. Zum Waldlauf war es mir zu glatt (das ist alles erst in der Nachtüberfroren), aber ich habe einen langen Winterspaziergang gemacht.
Da ging es mir gestern so wie Ihnen heute.
Ich mag auch die Wintermaerchenlandschaften. Nur Dresden ist eben nicht das Erzgebirge.
Und manchmal – wie heute – ist es auch gut so, wenn man auf die oeffentlichen Verkehrsmittel angewiesen ist, die dann beim ersten Schnee regelmaeszig versagen.
Nochmal zum Text:
«In Freiburg muss ein Besucher eine Stadttochter heiraten, wenn er versehentlich ein Bächle tritt. Ich kenne die lokalen Bräuche in St. Martin nicht und sehe mich vor.»
Was soll das heissen? Sind Ihnen die Franzoesinnen etwa nicht gut genug 😉
Die Übernachtung in Menton war schon gebucht und wäre ob der Komplikationen verfallen.
«No risk, no fun.»
Dann ist es ja (ganz objektiv) noch schlimmer als gedacht. Wegen einer gebuchten Uebernachtung verpassen Sie event. das Glueck Ihres Lebens. (Erinnert mich an das biblische Linsengericht.)
Na, mir kann’s nur recht sein. Sonst haetten Sie vielleicht schon lange ganz andere Prioritaeten – und auf dieser Website waeren Sie nie wieder.