Durch das hohe Savoyen


Radreise Seit meiner ersten Radtour Genf-Nizza 2012 ist Savoyen ein Teil meiner spirituellen Heimat.

No risk, no fun. – Volksmund

(Fortsetzung von: Die Straßen nach Courmayeur)

Kleine Bernhardiner

Die Gäste der Maison La Saxe sind Frühaufsteher, wenigstens am 15. Juni 2023. Sie werden mit einem erstklassigen Frühstück belohnt. Hier wird jeder satt, auch ein hungriger Bergradfahrer. Es gibt sogar ein weichgekochtes Ei und dann gibt es ein Problem. Meine Übernachtung habe ich vorausbezahlt. Wie so oft wurde die örtliche Kurtaxe nicht mit abgebucht. Kartenzahlung geht nicht. Bargeld habe ich dabei, aber kein Münzen. Zum Herausgeben reicht das Kleingeld nicht. Ich biete der Frühstücksdame an, sie könne aufrunden. Sie erlässt mir die Kurtaxe.

Bis Pré-Saint-Didier geht es bergab. Ich brauche eine Jacke, aber keine Handschuhe und keine lange Hose. Kurz nach dem Ortseingang biege ich rechts zum Colle Piccolo S. Bernardo ab. Die Straße steigt an, der Himmel ist ganz blau. Ich steige ab und ziehe meine Jacke aus. Im Wald ist es dann schattig, aber kalt wird mir in den acht Haarnadelkurven bis Plan du Bois nicht. Bald liegt die Straße wieder in der Sonne.

Es folgt der erste Baustellensprint dieser Tour. Baustellensprints werden durch eine Ampel an einer ansteigenden Straße angekündigt. Meist ist die Ursache eine Baustelle. Der Radfahrer weiß nie, wie diese Ampel geschaltet ist und meist ist das einspurige Stück nicht einzusehen. Ist das mit dem Rad zu schaffen? Wie eng wird das? Kommt vielleicht von vorn ein Baufahrzeug? Das ist auch schon mal passiert. Deshalb bläst man zum Baustellensprint. Es gibt verschiedene Taktiken. Unerschrockene fahren vor der Autoschlange. Das hat den Vorteil, dass der Gegenverkehr chancenlos ist. Er muss warten, auch wenn die Ampel auf grün schaltet. Die Autofahrer mögen das allerdings nicht, weder die von vorn, noch diejenigen von hinten. Der höfliche Radfahrer winkt alle Autos und Motorräder vorbei. Das verringert den Stress von hinten – aber auch die Länge der Grünphase.

Dieser Baustellensprint erweist sich als harmlos. Die Autofahrer hinter mir lehnen mein Angebot höflich ab. Auf den ersten Metern ziehen die Autos vor mir etwas weg. Aber hier ist es nicht steil. Ich schalte hoch, die Straße wird enger, die Autos werden langsamer und bald habe ich die Stoßstange vor mir wieder erreicht. Der Baustellensprint ist kurz und die Ampelphase lang genug. Ich fahre entspannt in La Thuile ein.

Nach La Thuile kommt die schönste Serpentinenpassage. Sie führt durch Wiesen, das Tal ist weit, die Bergkulisse ringsum wunderschön. Verkehr gibt es fast gar keinen mehr. In der vorletzen Haarnadelkurve passiere ich die 2000-Meter-Höhenlinie. Noch 188 Höhenmeter bis zum Pass. Eigentlich verläuft dort gar keine Grenze. Ich komme aus dem Herzogtum Aosta und fahre in das Herzogtum Savoyen. Beide gehören zum Königreich Sardinien. Jedenfalls war das bis zum 24. März 1860 so. Noch früher war das Aostatal Teil der Grafschaft Savoyen. Der ehrgeizige Viktor Emmanuel II., Haupt der savoyischen Dynastie, wollte Mitte des 19. Jahrunderts König eines vereinigten Italiens werden. Für die militärische und diplomatische Unterstützung Frankreichs verscherbelte er das Herzogtum Savoyen und die Grafschaft Nizza. Die Savoyer durften abstimmen, ob sie zu Frankreich oder Italien wollten. Wenn die Stimmen richtig ausgezählt worden sind, wollten damals 99,8% zu Frankreich.

An der Nichtgrenze werden Plüschbernhardiner verkauft, obwohl es hier nie eine Bernhardiner-Zucht gab. Die Hunde mit dem Schnapsfässchen hat das Berhardinerkloster auf dem Col du Grand Saint-Bernard gezüchtet. Der liegt in einiger Entfernung von hier und verbindet das Aosta-Tal mit der Schweiz. Weil sich herzige Plüschhunde überall gut verkaufen lassen, findet auf dem Col du Petit Saint-Bernard kulturelle Aneignung statt.

Der Mont Blanc hält sich vornehm im Hintergrund.

Ich will keinen Plüschhund. Ich will etwas trinken und am Besten auch etwas essen. Das Restaurant hat eine Kellnerin, die Schweizer als aufgestellt bezeichnen würden, und es hat Tische in der Sonne. Ein paar Rennradfahrer sind schon da. Die warmen Panini sind gut und nahrhaft. Nach dem Essen fotografiere ich den eigentlichen Star dieses Passes. Das ist kein Hund sondern der Mont Blanc.

Vom Colle Piccolo S. Bernardo geht es heute für mich nur noch bergab. In La Rosiere wird für die kommende Skisaison gebaut und unterhalb des Ortes muss ich aufpassen, um den Abzweig nach Sainte-Foy-Tarentaise nicht zu verfehlen. Er erweist sich als eine Haarnadellinkskurve. Die Straße nach Sainte Foy ist etwa ein Auto breit und von vorn kommt eines. Der Fahrer wartet, bis ich an einer Stelle bin, an der wir einander sicher passieren können.

Im kleinen Sainte Foy muss ich nach dem Hotel Le Monal nicht lange suchen. In der Stichstraße zum Lieferanteneingang findet sich ein sehr massiver Fahrradständer. Ich könnte hier sogar den Akku meines E-Bikes aufladen, wenn ich eines hätte. Das Zimmer ist klein, hat aber einen Balkon. Ich wasche Trikot und Radhose, hänge beides in Sonne und Wind und gehe noch ein Stück wandern. Mein Körper bemerkt bald, dass er für heute genug von Anstiegen hat. An einer hübschen Haarnadelkurve, die ich morgen passieren werde, kehre ich um und ruhe mich bis zum Abendessen aus.

Souvenir Henri Desgrange

Der siebte Tag dieser Tour ist der Höhepunkt, wenigstens wenn man den an der Höhe über dem Meeresspiegel bemisst. Da ich nur gegen mich selbst fahre, werde ich das Souvenir Henri Desgrange dieser Tour gewinnen. Bei der Tour de France wird es am Col du Galibier vergeben, wenn dieser befahren wird und sonst am höchsten Punkt der Tour. Den Galibier lasse ich diesmal aus. Das Souvenir wird heute am Col de l’Iséran auf 2764 Metern Höhe vergeben.

Wird es das? Beim Auschecken fragt mich die Empfangsdame, ob ich nach oben oder nach unten unterwegs sei. Nach oben. Der Col de l’Isèran sei nach einem Erdrutsch gesperrt. Es sei nicht klar, wann er wieder öffne. Es sei aber vielleicht möglich, die Stelle mit dem Fahrrad zu passieren. Insgeheim hoffe ich, dass sie weiß, dass man die Stelle mit dem Rad passieren kann und es mir nur nicht direkt sagen darf.

Mein Körper hat sich gut erholt und es rollt. Auf den Straßenschildern steht, dass der Pass offen ist. Eine Leuchtschrift-Tafel verkündet, dass die Durchfahrt ins Maurienne-Tal gesperrt sei. Sie schreibt es auf französisch. Muss ich das lesen können? Ab Abzweig nach Tignes kurz vor dem Lac du Chevril steht ein belgisches Motorradfahrerpaar. Die Beiden haben gute Laune und winken. Ich nehme doch mal an, dass Motorradfahrer untereinander gut vernetzt sind. Wenn die gerade ihre Kette ölen müssen und trotzdem gute Laune haben, kann man die Erdrutschstelle vermutlich sogar mit dem Motorrad passieren.

Schneller als gedacht erreiche ich Val d’Isère. Hier war ich 2012 schon einmal. Damals hat es geregnet, es war 17:40 Uhr, ich hatte keine Unterkunft und die Touristeninformation würde um 18 Uhr schließen. Auf dem Weg dorthin hatte ich in Val d’Isère noch kein offenes Hotel gesehen. Die junge Frau am Schalter fand eine kleine Ferienwohnung in einem Hochhaus für mich. Die Wohnung hatte eine französische Atomstrom-Nachtspeicherheizung. Am nächsten Tag frühstückte ich in einer Bäckerei und fuhr mit trockenen Sachen Richtung Pass los. In Passnähe kam mir im Schneeregen ein Wohnmobil entgegen. Der Fahrer grüßte mit Lichthupe. Ein Passfoto habe ich damals nicht gemacht. 2018 wollte ich den Col de l’Iséran von der anderen Seite fahren. Nach einer Übernachtung in Bessans kehrte ich unverrichteter Dinge um. Der Pass war 2018 Mitte Juni nach einem schneereichen Winter noch gesperrt.

Heute scheint die Sonne. Ich versorge mich in einem kleinen Supermarkt Getränke. Die belgischen Motorradfahrer kommen auch. Sie brauchen einen Kanister Öl. Vor dem Supermarkt esse ich ein Sandwich, damit ich auf den restlichen tausend Höhenmetern keinen Hungerast bekomme.

Kurz hinter dem Ortsausgang bittet ein Hinweisschild die Autofahrer, nicht zu rasen. Der Wanderweg quert! Ein kluges Murmeltier kreuzt genau dort die Straße. Heute nicht nötig, Murmeltierchen. Es fehlt an Autos. Die Fahrer wissen, dass da kein Durchkommen ist.

Atemberaubende Aussicht in der Auffahrt zum Col de’l Isèran. Und kein Auto weit und breit.

Das Wetter bleibt schön, die Aussicht wird atemberaubend. Oder fehlt der Atem wegen der dünnen Luft und dem Anstieg? Egal. Es fährt sich gut. Noch nicht mal 12 Uhr und nur noch ein paar hundert Höhenmeter. Am Pass sind dann doch ein paar Leute, fast alles Motorrad- und Fahrradfahrer. Die E-Bikes überwiegen. Meine erste große Anschaffung mit D-Mark nach der Wende 1990 war ein Trekkingrad, dass die italienische Rennradfirma Bianchi baute, um an dem damals neuen Trend mitzuverdienen. Jetzt bauen sie aus dem gleichen Grund auch E-Bikes. Sie sehen ungewöhnlich sportlich aus.

Die Straßenschilder haben nicht gelogen. Die Straße war bis zum Pass offen. Die Leuchtschrift hat auch nicht gelogen. Ab hier ist sie gesperrt. Es gibt sogar eine Barriere.

Die Straßensperre am Col de’l Isèran – von Süden gesehen. Da hat wohl jemand ein wenig dran gerückt, damit Fahrräder und Motorräder vorbeikommen.

Die Sperre ist überwindbar. No risk – no fun. Während die beiden italienischen E-Biker noch palavern, mache ich mich auf die Abfahrt. Die Straße ist frei, sie ist trocken und Autos gibt es auf dieser Seite gar nicht mehr. Bei Minute neun der Abfahrt kommt die Erdrutschstelle. Ich mache ein Foto. Sie ist mit dem Fahrrad oder Motorrad auf dem unbefestigten Randstreifen leicht zu umfahren.

Steinschlagstelle in der Abfahrt vom Col de l’Isèran. Der Motorradfahrer im Hintergrund ist noch frohen Mutes.

Während ich fotografiere, überholt mich ein italienischer Motorradfahrer. Engstelle geschafft, wird er wohl denken. Kurz darauf passieren mich die beiden italienischen E-Bike-Fahrer. Das Bianchi-Rad ist wirklich schick. Ich steige auf, fahre ein paar hundert Meter und sehe die Barriere, mit der die Steinschlagstelle von der anderen Seite gesichert ist. Sie besteht aus zwei Betonblöcken. In der Lücke zwischen den Blöcken steckt der italienische Motorradfahrer. Er hat die Breite seiner Gepäckkoffer unterschätzt.

Es geht nicht vor. Es geht nicht zurück. Die Maschine klemmt. Wenn er es mit Gewalt versucht, wird das Motorrad umfallen, sobald es nach hinten freikommt. Die Sache ist im Wortsinn verfahren. Ich verkneife mir ein Foto. Die beiden E-Biker reden schon mit ihm, auch mit den Händen. Sie empfehlen, was auch ich empfehlen würde. Die Seitenkoffer müssen abgebaut werden. Da ich nicht gebraucht werde, schiebe ich mein Rad links an der Betonsperre vorbei und fahre weiter.

Bei Bonneval-sur-Arc verflacht die Abfahrt. Etwas später überholen mich die italienischen E-Biker, die im Flachen klar im Vorteil sind. Das Bianchi-Rad sieht wirklich Klasse aus, sagte ich das schon? Kurz vor Bessans überholt mich dann endlich auch der Motorradfahrer.

Aus nostalgischen Gründen fahre ich durch Bessans, obwohl es eine Umgehungsstraße gibt. Der örtliche Supermarkt hat italienische Ladenöffnungszeiten mit einer sehr langen Siesta. Das war schon 2018 so. Damals hatte er kein Brot und eigentlich gar nichts Frisches. Die Bäckerei von Bessans hatte nur bestellte Baguettes und ich hatte keines bestellt. Die Versorgungslage in Bessans Mitte Juni 2018 war etwa so gut wie diejenige in Bulgarien im Sommer 1988. In Bulgarien war ich mit Freunden mit Rucksack und Zelt unterwegs gewesen, so dass der Brotmangel problematisch war. In Bessans gab es 2018 wenigstens Wasa-Brot und ich war in einem Bed & Breakfast einquartiert, das ein gutes Frühstück anbot.

Von Bessans ist es nur noch ein Katzensprung bis nach Le Champs. Die Katze muss einen kleinen Gegenanstieg von etwa 50 Höhenmetern zum unbekanntesten der drei französichen Cols de la Madeleine überwinden. Von dort ist es nur noch ein Ausrollen bis zur Unterkunft. Ich bin viel zu früh da. Vor dem Haus steht ein schöner Tisch im Garten, wo ich noch etwas Käse und Obst esse. Dann laufe ich zurück nach Lanslevillard und suche mir oberhalb des Ortes eine Bank mit schöner Aussicht, auf der ich meine E-Mail erledige.

Das La Clés de Champs ist ein Familienbetrieb, in dem die Frau der Chef ist. Le Champs war früher ein sehr kleines Bauerndorf mit Mühle. Dann wurden auf der gegenüberliegenden Straßenseite Skilifte gebaut. Jetzt ist fast jedes Haus ein Hotel, auch die ehemalige Mühle. Sonst gibt es noch die Jugendherberge Val Cenis und ein Wohnhaus, das den Boom verschlafen hat. Ich habe mit Halbpension gebucht und die Chefin kocht gute Bergtalkost. Als Vorspeise serviert sie einen Riesensalat mit reichlich Speckwürfeln und so geht es auch weiter. Die Rotweinflasche stellt sie auf den Tisch und sagt, ich könne mir einfach nachschenken. Der Preis ist sehr gut und das Zimmer auch.

Kalabrien und Sizilien zu Gast in Savoyen

Die Chefin serviert auch ein reichhaltiges Frühstück. Ich kann es brauchen. Nach den gestrigen reichlich 2000 Höhenmetern Anstieg sind es heute noch einmal 1670 Höhenmeter und dazu 70 Kilometer. Immerhin hat Komoot eine geniale Abkürzung für mich gefunden. Ich werde zwar einhundert Meter schieben müssen, aber erspare mir die Abfahrt nach Susa und die Auffahrt auf der italienischen Staatsstraße 24 bis Chiomonte. Komoot kennt einen Schleichweg auf halber Höhe.

Zunächst geht es aber hinauf zum Col du Mont Cenis. Es ist noch kühl, aber kurzärmlig-kühl. Ich nehme den Weg über Lanslevillard, von wo aus eine Nebenstraße bergauf führt. In einer Spitzkehre trifft sie auf die eigentliche Passstraße, welche von Lanslebourg kommt. Im Juni gibt es hier noch nicht viel Verkehr, aber es ist schon warm genug, also ideal, um Rollsplitt auszubringen. Autofahrer mögen das nicht, weil aufgewirbelter Splitt Lackschäden verursachen kann. Motorrad- und Radfahrer mögen es noch viel weniger.

Meine spektakulärste Rollsplitterfahrung habe ich 2016 in den Pyrenäen am Col de Menté gemacht. Der Pass sollte einen Monat später Teil einer Tour-de-France-Etappe sein. Die Verkehrsbehörde wollte wohl ganz sicher gehen, dass die Fahrbahn in der Julihitze nicht aufweichen würde. Der Splitt war etwa eine Handbreit tief. Vor mir schwamm ein Motorradfahrer, der sich verzweifelt bemühte, nicht umzufallen. Mit dem viel leichteren Fahrrad war das mein Problem nicht. Ich kam nur kaum voran. Gegen den Rollsplitt vom Col de Menté ist der heutige harmlos. Trotzdem atme ich auf, als ein Straßenschild das Ende der Tortur verkündet. Es dankt den Verkehrsteilnehmern höflich für ihr Verständnis. Bitte schön.

Col du Mont Cenis. Der Fotograf hat vergessen, den Helm abzunehmen. Er ignoriert das eigentliche Passschild im Hintergrund, nur um ein schöneres Motiv zu haben.

Kurz danach endet der Wald und bald tauch der Stausee Lac du Mont Cenis auf. Der vorige Winter war zu trocken. Hier fehlen etwa zwei Meter am normalen Wasserspiegel. In der Abfahrt bemühe ich mich, die geniale Komoot-Abkürzung nicht zu verpassen. Einmal stoppe ich kurz, um die Navigation auf meinem Smartphone zu konsultieren. Der zweite Stopp erweist sich als der richtige Abzweig. Der Weg von Giaglione nach Chiomonte, den Komoot als fahrbar bezeichnet, wechselt von Asphalt auf unbefestigt und dann auf stark unbefestigt. Er ist aber tatsächlich fahrbar. Ich passiere den verlassenen Hof Clarea, der mit Transparenten vollgehangen ist. Sie protestieren gegen eine Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke. Hier müssen bis vor Kurzem Aktivisten gehaust haben. Dann kommt wieder Asphalt. Mein Navi verlangt, dass ich links abbiege. Links ist ein Tor. Es ist geschlossen, etwa zweieinhalb Meter hoch und mit Stacheldraht bekränzt.

Ich versuche, ob ich das Baugelände weiter südlich umgehen kann. Die Straße endet an einem weiteren Tor. Drinne patroullieren Soldaten. Sie kommen heran und ich frage sie, ob irgendwo ein Durchkommen ist. Englisch verstehen sie zwar nicht, aber die Situation ist klar genug. Weiter oben gehe es nicht. Dass es weiter unten nicht geht, weiß ich schon. Laut Komoot-Karteist die nächste Möglichkeit, den Fluss Dora Riparia zu überqueren, in Susa. Dort hätte ich ihn ohne die geniale Komoot-Abkürzung überquert und dort werde ich ihn nun überqueren. No risk, no fun.

Die Staatsstraße 24 von Susa in Richtung Cesana Torinese ist leer, sie ist breit und sie hat einen großzügigen Randstreifen. Mit etwas gutem Willen lässt der sich als straßenbegleitender Radweg interpretieren. Es gibt aber eigentlich keine Autos. Die Fahrer ziehen wohl die parallele Autobahn A 32 vor. Die 24 steigt zumeist nur sanft an und führt an sehenswerten Burgen vorbei. Bei Ouix verlasse ich sie rechts in Richtung Bardonecchia. Im Ort sehe ich gleich ein Schild mit dem Hotelnamen, an den ich mich erinnere. Ich erreiche das Hotel, steige ab und das Hotel ist geschlosssen.

Schon wieder? Ich erinnere mich nun, dass dieses Hotel meine Buchung schon vor Wochen storniert hat. Ich hatte dann stattdessen das Hotel Sommeiler in Bahnhofsnähe gebucht, das leider kein Frühstück anbietet. Ich werde nach dem Einchecken erst einmal in den Supermarkt gehen müssen. Das Sommeiler sieht etwas heruntergekommen aus. Laut Buchung ist es zum Einchecken auch noch zu früh. Ich versuche es trotzdem und es wird der lustigste Hotelaufenthalt dieser Tour.

Der Mann an der Rezeption kann eigentlich kein Englisch. Er macht mir verständlich, dass die Chefin es könne, aber erst später käme. Ich kann kein Italienisch. Wir verständigen uns prima. Die Zimmerschlüssel hängen auf meiner Seite. Das Faktotum auf der anderen Seite könnte leicht um den Tisch laufen und mir meinen geben. Der Mann test, ob ich italienische Zahlen verstehe. Es geht. Daraufhin entscheidet er, dass er mir auch einen Witz erzählen kann. Es geht um mein Rad. Das würden wir jetzt in den Hotelhof bringen. Dort sei es sicher. Man sei ja hier in Norditalien und nicht in Kalabrien! Er fragt noch ab, ob ich im Hotel zu Abend essen wolle und nennt einen Preis, für den ich in Zürich gerade so eine Pizza bekommen würde. Das Hotel hat auch Frühstück.

Mein Zimmer wurde bei der Buchung als «einfach» beschrieben. Das trifft zu. Das Zimmer hat alles, was ich brauche und den Charme einer vergangenen Zeit. Es ist tadellos sauber. Die Möbel dürfen beinah schon als antik gelten. Es gibt einen Fernseher und der Fernseher hat Radio Freccia. Ich dusche zu Hardrock. Ein kleiner Balkon ist auch da, ausreichend, um nach dem Waschen Trikot und Radhose dort zum Trocknen aufzuhängen. In Italien ist Wäsche auf dem Balkon Folklore.

Als ich mich frisch geduscht auf einen Stadtrundgang begeben will, sitzt die Chefin an der Rezeption. Sie fragt sicherheitshalber noch einmal wegen des Abendessens. Dann gibt sie mir einen Stadplan und empfiehlt mir einen Rundgang um Bardonecchia, als ob sie wüsste, was ich nach einer Radtour am Zielort gern tue. Der Rundgang hat alles: Die schicke Einkaufsstraße, ein Stück Altstadt, den Kurweg auf der anderen Seite des Rio di Valle Stretta und den Blick auf das olympische Dorf. Bei den Olympischen Winterspiele 2006 in Turin hat Bardonecchia die Snowboard-Wettbewerbe ausgerichtet.

Mein erster Stopp ist die Schlange vor einem Eisstand. Ich bekomme meine zwei Kugeln Eis und drehe mich um. Das Hotel-Faktotum hat eine Tochter. Die beiden stehen in der Schlange. Da habe ich wohl zufällig die beste Eisdiele von Bardonecchia erwischt.

Das Sommeiler hat einen eindrucksvollen Speisesaal und ein noch eindrucksvolleres Abendbüffet. Das Faktotum serviert die Getränke und erklärt mir die Lage. Der Küchenchef, der auch hinter dem Büffet steht, sei Sizilianer. Er selbst hingegen sei – aus Kalabrien! Als ich meinen Teller leer gegessen habe, findet er, ich müsse unbedingt noch die Lasagne probieren. Warum nicht? Und dann Dessert vom Kuchenbüffet. Warum nicht? Mein Körper holt sich zurück, was er an den Anstiegen verbraucht hat.

Die unvermeidliche Casse desserte

Beim Frühstück des neunten Fahrttages esse ich noch ein Stück Torte vom Kuchenbüffet. Mit diesem habe ich schon gestern Abend geliebäugelt, aber es ging nicht mehr rein. Dann checke ich aus. Die Chefin fragt mich, ob ich vielleicht eine Bewertung auf booking.com schreiben würde. Sie hätten das Hotel neu übernommen und bräuchten eine aktuellere Bewertung. Gern doch!

Ich rolle aus Bardonecchia hinaus, das an diesem Sonntagmorgen noch schläft. Für heute habe ich mir einen Leckerbissen ausgesucht, den Col de’l Echelle. Dieser nur 1744 Meter hohe Grenzpass ist selbst unter Alpenradfahrern ziemlich unbekannt. Mit knapp 500 Höhenmetern Anstieg von Bardonecchia ist er auch nur eine Vorspeise. Dafür ist die Straße schmal, was Bergradfahrer lieben. Auf einem Stück des Wegs klebt sie abenteuerlich an einer Felswand. Alle Autos sind am besser ausgebauten Col de Montgenèvre, sofern sie nicht nach Norden wollen und vom Fréjus-Tunnel verschluckt worden sind.

Der Himmel ist blau. Die Leute, die in Passnähe zelten, schlafen auch noch. Ich fahre ab nach Briançon und fitze mich mit Hilfe des Navi durch die Stadt. Als ich schon den Kreisverkehr sehe, von dem die Straße zum nächsten Pass abzweigt, werde ich angequatscht. Ein Mann will wissen, ob ich den Col d’Izoard hinauffahren will. Aber ja doch. Wer mit dem Rad die französischen Alpen in Richtung Côte d’Azur durchquert, hat zwar fast überall die Wahl zwischen verschiedenen Varianten. In Briançon jedoch nicht. Selbst wenn man die italienische Seite des Hauptkamms mit in Betracht zieht, muss man entweder tief und weit ins Tal rollen oder den Col d’Izoard bezwingen. Dafür hat diese Passstraße einen durchgängigen Radstreifen. Der Mann hat den Pass gestern mit seiner Frau von Süden her bezwungen. Ich sage ihm nicht, dass es nach 2012 und 2014 meine dritte Begegnung mit dem Col d’Izoard ist.

Ich überquere die La Durance, durchfahre den Kreisverkehr und bin das betriebsame Briançon los. Dieser Pass ist von Anfang an schön. Es gibt keine langweilige flache Anfahrt. In Cervières ist es dann an der Zeit, meine Trinkflaschen aufzufüllen. Das Dorf hat einen Brunnen, an dem allerdings steht, er sei nicht kontrolliert. Nicht kontrollierte Brunnen befinden sich sehr häufig direkt neben Kiosken oder Restaurants. Das ist auch hier so. Ich trinke und fülle meine Flaschen auf. Es wird kein Problem geben.

Das klassische Foto vom Col’Izoard hinab zum Refuge Napoleon und in das Tal, in dem Cervières liegt.

Heute ist Sonntag. Es sind viele Rennradfahrer unterwegs und sie sind deutlich schneller als ich. Ich genieße dafür die Blumen. Im Juni blühen hier zahlreiche weiße Kuhschellen. Bald bin ich am Refuge Napoleon nach dem nur noch der Schlussanstieg kommt. Aus Erfahrung weiß ich, dass in einer der letzten Kurven wahrscheinlich ein Fotograf lauert. Die Bilder lassen sich an Rad- und Motorradfahrer verkaufen. Früher war das körperliche Arbeit. Die Radfahrer bekamen noch ein Kärtchen mit der Webadresse des Fotodienstes gereicht und dazu musste der Fotograf ein Stück neben dem Rad rennen. Inzwischen haben die Firmen in Aufsteller am Straßenrand investiert. Sie vertrauen darauf, dass die Radler sich die Adresse merken können oder mit dem Smartphone fotografieren. Aus dem Sattel gehen, Fotografin anschauen, lächeln! Man weiß erst Tage später, ob es geklappt hat. Diesmal nur halb.

Den Flirt mit Fotografinnen muss ich wohl noch üben.

Am Pass ist mittelmäßiges Wetter und auch nur mittelmäßiger Betrieb. Es gibt einen hübschen Vorplatz vor dem Passmonument und einen Aussichtsweg, der neu angelegt worden ist. Ich vertrete mir ein wenig die Füße, ehe ich mich warm angezogen an die Abfahrt wage. Zehn Minuten später bin ich an dem Parkplatz, von dem man den besten Blick auf die Casse desserte hat. Sie wird gern als «Mondlandschaft» am Col d’Izoard bezeichnet und gilt als Sehenswürdigkeit. Früher stand hier mal ein Fahrradständer. Ich mache das unvermeidliche Foto. Dann nehme ich das letzte Stück nach La Chalp in Angriff, wo ich übernachten werde.

Blick zurück auf den Col d’Izoard und die Casse desserte.

In La Chalp ist es wieder einmal zu früh zum Einchecken. Gegenüber dem Hotel gibt es einen Wanderparkplatz mit Picknicktischen. Ich entscheide mich für ein spätes Mittagessen mit Käse und Brot aus den Seitentaschen. Dann wechsle ich von der Radkleidung in Wanderkleidung und Geländelaufschuhe und mache einen Spaziergang ins nahe Arvieux. Dort gab es 2012 eine Konditorei mit Tischen davor, gutem Kaffee, noch besserem Gebäck und einer netten Konditorin. Arvieux ist voller Wimpel und inzwischen scheint auch wieder die Sonne. Die Konditorei gibt es noch. Sie ist am Sonntagnachmittag geschlossen.

Ich wandere zurück nach La Chalp und checke ein. Das Hotel hat zum Abendessen gutes Craft-Bier. Mich trennen nur noch vier Fahrttage von der Côte d’Azur.


17 Antworten zu “Durch das hohe Savoyen”

  1. «Zum Herausgeben reicht das Kleingeld nicht. Ich biete der Frühstücksdame an, sie könne aufrunden. Sie erlässt mir die Kurtaxe.»

    Kenne ich – alter Trick 😉

    «Sie protestieren gegen eine Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke. Hier müssen bis vor Kurzem Aktivisten gehaust haben.»

    Kenne ich – das ist die «No tav»-Bewegung. Vor unendlich langer Zeit waren da mal paar Aktivisten in Dresden. Der Button haengt bei mir noch im Schlafgemach.

    https://stuttgart21international.wordpress.com/no-tav-2/

    Wusste ich doch, welchen Beitrag Sie da weiter schreiben 😉

    Der liest sich gut an – macht gluecklich. Leider muss ich erstmal stoppen auf halber Strecke…

    Gute Nacht! (Natuerlich auch dem @Albatros.)

  2. Toller Reisebericht, kleine Anekdoten, schickes Tretrad, paar klasse Fotos – was will man mehr. Und gut, dass Sie das Fotografin-Foto gleich hier eingestellt haben. (Musste ich nicht erst wieder ewig im Netz suchen.) So schoen authentisch…

    So, genug der Schleimspur, bevor Sie ausrutschen. Freue mich schon auf Teil 3!

      • Ich finde das Olle Klasse.

        Klar das Bianchi ist zwar ein schickes italienisches, und von der Firma hatte er schon mal eins 1990 gekauft (schweineteuer wahrscheinl. – muss in der DDR saugut verdient haben und dann umgerubelt in DM…) – aber E-Bike ist nur was fuer Weicheier oder agile Rentner.

        Braucht der (kursiv) doch nicht.

            • Natuerlich habe ich das vorher gecheckt – der Film ist nicht verboten.

              google-Seite:

              «1937 wurde Riefenstahl für diesen Film während der Pariser Weltausstellung mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Triumph des Willens ist in Deutschland nicht indiziert und ist kein Vorbehaltsfilm, da er von der FSK nie diesbezüglich geprüft worden ist und daher „ab 18 Jahren freigegeben“ ist.»

              • Das ist richtig. Riefenstahl galt auch nur als Mitläuferin. Ihr Talent als Regisseurin ist unbestritten. Sie hat schon in der Weimarer Republik Regie geführt und damals waren weibliche Regisseure sehr selten. Riefenstahl war Ehrengast der Olympischen Spiele 1976 in Montreal und ist den den 1970er Jahren auch für fotografische Arbeiten ausgezeichnet worden.

                  • «Da musste dann bestimmt der Sprecher des Organisationskomitees zurücktreten»

                    Das ist eine plausible Geschichte. Vermutlich hieß er Rota und hatte einen 15-jährigen Sohn. Und der brachte es dann bis zum Parlamentspräsidenten, ehe es wiederum zu einem scharfen Karriereknick kam…

      • Bitte nicht mein treues Pferd verärgern 😉

        Das Cube Kathmandu ist tatsächlich für diese Art Touren eine eher billige Lösung und nach der ersten langen Bergtour damit (Pyrenäen 2019), musste das hintere Laufrad ausgetauscht werden (Scheibenbremse überhitzt, Plastik-Lager für die Steckachse verzogen). Seitdem habe ich auch andere Scheibenbremsen hinten und vorn mit Kühlfläche.

        Aber sonst bin ich sehr zufrieden. Es ist ausgesprochen fahrstabil, der in den Rahmen integrierte Gepäckträger wackelt nicht, bisher unplattbar und hat eine erstklassige Schaltung. Wenn es viel sportlicher aussehen würde, würde nur auffallen, dass ich nicht mehr so sportlich fahre 😉

  3. Jetzt doch noch eine kleine Kritik:

    Also, wenn man mich als «das Faktotum» (Ich weiss, hab› nachgegoogelt: Ist eine unentbehrliche Hilfskraft, im Deutschen wuerde man sagen: «Das Maedchen fuer alles» – oder alternativ wenig schmeichelhaft – aelterer Mensch, der, auf liebenswerte Weise, etwas sonderbar ist) bezeichnen wuerde, waere ich arg beleidigt. (konkret saechlicher Artikel)

      • Ach – issn› Mann? Konnte das nicht so genau feststellen. Einmal war DAS mit Tochter (haette also auch weiblich oder divers sein koennen) und vorher schrieben Sie zwar «Mann Test», aber den hatte ich auf Sie bezogen.

        Ja, okay, gestern hatte ich es nur im Schnellgang bis zur Haelfte gelesen. Dass der Mann an der Rezeption auch gleichzeitig das Faktotum ist, hatte ich nicht geschnallt.

        Und irgendwie gefaellt mir jetzt der Begriff…

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